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Fragen eines neuen linken Projekts - Instituts für kritische Theorie ...

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958 Besprechungen<br />

Geschichte des Ruhrgebiets. Strittig seien lediglich die Folgerungen aus dieser weitgehend<br />

gemeinsamen Beurteilung gewesen. Während die Unternehmer auf Disziplinierung<br />

setzten, hätten Gewerkschaften und bürgerliche Reformer die Arbeiter erziehen wollen.<br />

Der Autor stellt sich nun die Aufgabe, der Dominanz des öffentlichen Überlieferungsstranges,<br />

der auch das historiographische Bild einer entwurzelten, zu rationaler Konfliktlösung<br />

noch nicht fähigen Ruhrbergarbeiterschaft um 1900 nachhaltig prägte, entgegenzusteuern.<br />

Er nimmt einen Perspektivenwechsel vor und beläßt die Bergarbeiter<br />

nicht im Objektstatus, sondern sucht ihre Handlungsmotive und Verhaltensweisen zu rekonstruieren.<br />

Dabei half ihm »Oral History«, »neue Ansatzpunkte und Fragestellungen<br />

zu gewinnen« (268). Da sich »die Realität kapitalistischer Gesellschaften« »nur in begrenztem<br />

Umfange unmittelbar erfahren« lasse, befreie »Oral History« jedoch nicht<br />

von analytischer Anstrengung (268).<br />

Die Stationen der »Entdeckungsreise ins eigene Volk« (13): die Lebens- und Wohnbedingungen<br />

der Bergarbeiterfamilien, der Bergbau und die Bergarbeit selbst, das Freizeitverhalten<br />

der Bergleute zwischen proletarischer Selbsthilfe und bürgerlicher Abhilfe sowie<br />

»der Lohn der Mühen« - Löhne und Arbeitszeit, Lebensunterhalt und Versieherungssystem.<br />

Auf dieser Basis sucht der Autor den Zusammenhang zwischen Alltagserfahrungen<br />

und Arbeitskämpfen der Ruhrbergleute von 1889 bis 1919 zu rekonstruieren.<br />

Die wesentlichen Ergebnisse der Entdeckungsreise: 1. Angesichts der Deflzienz staatlicher,<br />

kommunaler und marktgängiger Regelungsmechanismen sowie auch nur begrenzter<br />

Leistungen des Zechenwohnungsbaus entwickelte sich das Kostgängerwesen zu einem<br />

Massenphänomen. Die Quartiergeber gewannen so eine zusätzliche Einnahmequelle,<br />

mit der sich <strong>kritische</strong> Phasen im Lebenszyklus einer Familie leichter überstehen ließen.<br />

Die meist ledigen, jungen und hochmobilen Kostgänger fanden nicht nur einen<br />

Schlafplatz, sondern auch »Kontakte, Schutz, Vertrautheit und Geborgenheit in einer<br />

fremden, wenig gastfreundlichen Umgebung« (65). Überdies bildete sich durch das Zusammenleben<br />

von Quartiergebern und Kostgängern eine Struktur heraus, die der Autor<br />

im Kontrast zur hermetisch abgeschlossenen Kleinfamilie als »halboffene Familie« (62)<br />

charakterisiert: Wer »stets neue Kontakte und Beziehungen herstellen mußte, mit anderen<br />

seine Wohnung und Räume teilte, der wohnte notgedrungen offener« (ebd.). 2. Entgegen<br />

jener Lesart der Bergbaugeschichte, in der den Unternehmern der Part des ökonomischen<br />

und technischen Erfolges und den Arbeitern die Rolle derjenigen, die lediglich<br />

ihre Körperkraft einbringen, zugewiesen wird, auch entgegen dem Stereotyp von der besonders<br />

autoritären Betriebsorganisation im Bergbau betont der Autor die Selbständigkeit<br />

und Autonomie der Arbeitsgruppen unter Tage. »Die Bergleute arbeiteten die ganze<br />

Schicht über fast ohne Aufsicht, mußten sich ihre Arbeit selbst einteilen, ihr Vorgehen<br />

selbst organisieren« (128). An Kontrollmöglichkeiten standen der Unternehmerseite im<br />

wesentlichen nur das Entlohnungssystem sowie ein Bündel von Straf- und Disziplinarmaßnahmen<br />

zur Verfügung, die sich lediglich auf das Arbeitsergebnis der Bergleute bezogen.<br />

So war »die Welt unter Tage« »nicht nur eine andere Welt, sie war auch - in des<br />

Wortes enger Bedeutung - ihre Welt« (141). Mit Marx könnte man die Produktionsverhältnisse<br />

des damaligen Ruhrbergbaus als nur formelle, noch nicht reelle Subsumtion<br />

der Arbeit unter das Kapital kennzeichnen. 3. In dem auch in die Bergarbeiter-Freizeit<br />

hineinreichenden »Kontinuum gemeinsamer Anstrengungen und Erfahrungen sowie gemeinsamer<br />

Körperlichkeit und - im wörtlichen Sinne - hautnaher Kontakte« (158)<br />

und in den informellen Solidarbeziehungen, lassen sich, so Brüggemeier, Elemente einer<br />

spezifischen Arbeiterkultur erkennen, an deren Handlungspotential jedoch kein Konzept,<br />

auch nicht seitens der Gewerkschaften, angeknüpft habe. 4. Gegenüber den in der<br />

Stahlindustrie des Ruhrgebiets tätigen Arbeitern habe sich die wirtschaftliche Position<br />

der Bergleute durch eine »relative Sicherheit« (176) ausgezeichnet. Auf keinen Fall treffe<br />

die These zu, die Bergleute seien auf Grund einer extremen Verelendung besonders<br />

DAS ARGUMENT 148/1984 ©

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