Fragen eines neuen linken Projekts - Instituts für kritische Theorie ...
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880 Giu/io Girardi<br />
Er macht deutlich, daß der Sinn des Denkens nur zu erschließen ist, indem<br />
man über es hinausgeht; daß das grundsätzlich Originelle dieser <strong>Theorie</strong> in<br />
dem bewußten Verhältnis zu der Praxis besteht, aus der sie hervorgeht oder<br />
besser: deren wesentlichen Bestandteil sie bildet. Auf eben diesem Gebiet ist<br />
der Marxismus heute zahlreichen Angriffen ausgesetzt. So wenn man ihm die<br />
Wissenschaftlichkeit bestreitet, weil er parteilich, deshalb »ideologisch« zur<br />
Objektivität unfähig ist; parteilich und deshalb unfähig, mit seinen Thesen den<br />
Konsens der Wissenschaftler zu finden. Aus demselben Grund werden auch<br />
seine philosophischen Konzepte verworfen. Die Wahrheit ist unteilbar. Ein<br />
Gelehrter kann kein politischer Kämpfer sein.<br />
Solche Kritik sieht etwas Richtiges: genau in diesem Punkt bricht das Marxsche<br />
Denken mit der herrschenden Kultur seiner eigenen wie unserer Zeit. Mit<br />
diesem Bruch wird vor allem der Klassencharakter des Kulturellen bewußt, insbesondere<br />
der Geisteswissenschaften und der Philosophie. <strong>Theorie</strong> existiert<br />
nur als Teil einer übergreifenden Bewegung, einer Praxis, <strong>eines</strong> <strong>Projekts</strong>. Alles<br />
Denken korrespondiert mit praktischen Interessen. Genauer: alles Denken<br />
schreibt sich in die Praxis und die Interessen einer bestimmten gesellschaftlichen<br />
Gruppe ein. Dieser parteiliche Charakter des Denkens bleibt übrigens fast<br />
immer unbewußt. Wissenschaft und Philosophie halten sich normalerweise <strong>für</strong><br />
autonom gegenüber den sozialen Kämpfen und rechnen sich ihre »Interesselosigkeit«<br />
und »Überparteilichkeit« zur Ehre an. Tatsächlich handelt es sich indes<br />
um eine illusorische Autonomie, charakteristisch <strong>für</strong> ein Denken, das die<br />
eigenen Produktions bedingungen ausblendet ...<br />
In bezug auf einen so verstandenen Marxismus muß die Frage der Bedeutung<br />
der religiösen Erfahrung angegangen werden. In bezug auf einen so verstandenen<br />
Marxismus stelle ich auch die folgende Hypothese auf: die zentralen<br />
Verständnisschwierigkeiten des Marxismus gegenüber dem religiösen Phänomen<br />
sind zugleich Verständnisschwierigkeiten gegenüber der revolutionären<br />
Praxis; die Voraussetzungen <strong>für</strong> seine Öffnung gegenüber der religiösen Erfahrung<br />
kann er dadurch schaffen, daß er sein revolutionäres Engagement kohärent<br />
weiterentwickelt, nicht, indem er es unterdrückt.<br />
Literaturverzeichnis<br />
Bloch, E., 1962: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt/M.<br />
Bloch, E., 1968: Atheismus im Christentum, Frankfurt/M.<br />
Bloch, E., 1969: Thomas Münzer als Theologe der Revolution. Frankfurt/M.<br />
Bloch, E., 1979: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. (6. Aufl.)<br />
LW = Lenin Werke, BerlinIDDR 1953ff.<br />
MEW =Marx Engels Werke, BerlinIDDR 1956ff.<br />
DAS ARGUMENT 148/1984 ©