Fragen eines neuen linken Projekts - Instituts für kritische Theorie ...
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J osef Hülsdünker<br />
»Wirtschaftspolitik gegen uns oder mit uns«<br />
Zum 20. Todestag von Viktor Agartz<br />
Daß sein Name heute nicht im gleichen Atemzug mit denen von Böckler, Schumann und<br />
Adenauer genannt wird, hat seinen politischen Grund darin, daß der Sozialist Agartz<br />
mit der Macht der Arbeiterbewegung der aufstrebenden bürgerlichen Selbstgewißheit<br />
und Überheblichkeit die neugegründete Republik streitig machte. Aber seine politischen<br />
Erfolge <strong>für</strong> die Arbeiterbewegung - am Anfang, in den von den Nazis zurückgelassenen<br />
Trümmern von vorwärtstreibender Ausstrahlungskraft - waren am Ende eher bescheiden,<br />
weil sich seine politischen Ziele auf das Notwendige, aber schon Unerreichbare<br />
ausgerichtet hatten. In Anlehnung an ein Wort von Brecht darf man wohl sagen, auch<br />
Agartz hat bedeutende Vorschläge gemacht, von denen schon viele praktisch geworden<br />
sind, und es ist an uns, die übrigen anzunehmen.<br />
Geboren wurde er am 15. November 1897 in einer Remscheider Arbeiterfamilie. Beeindruckt<br />
von der russischen Oktoberrevolution und aufgerüttelt durch die kaiserlichen<br />
Standgerichte, mit denen der deutsche Militarismus den Widerstand gegen den sinnlosen<br />
Grabenkrieg zu unterdrücken suchte, trat er als Achtzehnjähriger in die SPD ein. 1921<br />
nahm er an bewaffneten Aktionen gegen den Kapp-Putsch teil. Nach seinem Studium<br />
der Ökonomie und der Philosophie in Bonn, Münster und Marburg arbeitete er zusammen<br />
mit Hans Böckler in der Konsum-Genossenschaft. 1933, nach kurzer Inhaftierung,<br />
erhielt er Berufsverbot, unterstützte Widerstandsgruppen, arbeitete ab 1937 wieder als<br />
Wirtschaftsprüfer. Als die Alliierten über den Rhein vorstießen, nahm er zusammen mit<br />
Böckler die Neugründung der Gewerkschaften in den »befreiten« Gebieten in Angriff.<br />
Aufgrund seiner illegalen Beziehungen zu in- und ausländischen Widerstandsgruppen<br />
waren auch ihm die <strong>neuen</strong> Ziele bekannt: weg von Richtungsgewerkschaften, Sozialpartnerschaft<br />
und »Führerkreismentalität« und hin zur autonomen Einheitsgewerkschaft.<br />
- Nach 1945 war Agartz führender Wirtschaftsexperte der SPD, galt als »Chefideologe«<br />
der Gewerkschaften, war Mitglied des Landtages in Nordrhein-Westfalen und<br />
hatte <strong>für</strong> kurze Zeit in den Westzonen quasi die Funktion <strong>eines</strong> Wirtschaftsministers inneo<br />
Seine zentrale politische Orientierung bestand darin, »daß ein bestimmender zentraler<br />
Einfluß auf Umfang und Richtung der Produktion erzielt wird«. An dieser Zielsetzung<br />
hielt er auch dann noch fest, als aus den Westzonen eine Republik und aus dieser<br />
schon wieder eine bürgerliche geworden war. Die Verfechter von Restauration, Revanchismus<br />
und hysterischem Antikommunismus in den 50er Jahren machten ihm schließlich<br />
wegen »unerlaubter Ostkontakte« den Prozeß. Heinemann und Posser konnten<br />
zwar vor dem Bundesgerichtshof 1956 einen Freispruch erwirken, aber das Ziel, Agartz<br />
als Ver fechter einer antikapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu erledigen,<br />
wurde leicht erreicht: 1958 schloß die SPD »ihren« Wirtschaftsexperten und 1%1<br />
der DGB seinen »Generalstabschef« aus, jeweils zu einem Zeitpunkt, als in beiden Organisationen<br />
neue Grundsatzprogramme auf der Tagesordnung standen, in denen dem<br />
Marxismus abgeschworen und die »soziale Marktwirtschaft« anerkannt wurde.<br />
Um im Gedenken an den Tod von Viktor Agartz, der sich am 9. Dezember 1984 zum<br />
zwanzigsten Male jährt, nicht seine »Vorschläge« der Vergessenheit anheimfallen zu lassen,<br />
sollen sie in der Sprache seiner damaligen politischen Gegner erneut zu Gehör gebracht<br />
werden. Seine »These«, schrieb Die Welt 1955, »daß der Kapitalismus nur eine<br />
Übergangserscheinung sei, sowie seine Vorstöße zur Verwirklichung des überbetrieblichen<br />
Mitbestimmungsrechts haben ein freimütiges Gespräch zwischen den Sozialpartnern<br />
häufig erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht«.<br />
DAS ARGUMENT 148/1984