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Fragen eines neuen linken Projekts - Instituts für kritische Theorie ...

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936 Besprechungen<br />

sengesellschaften hingegen dominiert die Ablehnung des Traums: man begreift den<br />

Traum als »Verschiebung, Verzerrung, Entstellung einer 'normalen', 'gesunden' WeItsicht«<br />

(157) und leitet daraus die Notwendigkeit der Traumdeutung ab, um die »gesunde«<br />

Weitsicht wieder in den Traum einzuführen. In den Traumbüchern der Antike und<br />

des Mittelalters zeigt Lenk an zahlreichen klassen- und geschlechts spezifischen Deutungen<br />

die offensichtliche Dominanz von Herrschaftsinteressen (159ff.). Die Traumtheorien<br />

liefern dazu - von Artemidor bis Freud in verblüffender Übereinstimmung - die<br />

methodische Richtschnur: der Traum ist in einzelne Elemente zu zerlegen, <strong>für</strong> die der<br />

Traumdeuter dann nach Entsprechungen in der wirklichen Welt sucht. Lenk bezeichnet<br />

dieses Verfahren als »Substitutionsmethode zur Konstituion von Sinn« (170); sie sieht<br />

damit alles Subjektive aus dem Traum vertrieben, die Traumform durch die Traumdeutung<br />

zerschlagen.<br />

Die Diskurse über den Traum tragen bei zur »Ersetzung der Traumform durch die<br />

Vernunftform« (306), die in der Antike begann und bis in die Gegenwart anhält. Der<br />

Traum als Integrationsinstanz der archaischen Gesellschaften wird abgelöst durch Religion,<br />

Literatur und Philosophie: die auf den Imaginationen aller Beteiligten beruhenden<br />

ekstatischen Rituale werden verdrängt durch die abgehobenen Rituale der religiösen<br />

Kulte, dann durch die antike Tragödie und durch die griechische Staatsphilosophie<br />

(308ff.). Die verschiedenen ideologischen Formen werden nun ihrerseits zu Schauplätzen<br />

der Auseinandersetzung zwischen Traum und Vernunft. Lenk zeigt dies anhand der Entwicklung<br />

der jüdisch-christlichen Religion (116ff.), vor allem aber am Beispiel der Literatur:<br />

einerseits selbst wie der Traum Artikulationsform des Imaginären, wirkt sie andererseits<br />

an der Zerschlagung der Traumform mit (82); liegt ihre <strong>kritische</strong> Funktion darin,<br />

daß sie die »Gefühlsverankerung der Gesellschaft« bei den Beherrschten rückgängig<br />

macht (30), trägt sie andererseits dazu bei, daß die Beherrschten - etwa in den Heldenepen<br />

- einer <strong>neuen</strong> Herrenmoral unterworfen werden (111). Lenk zeigt an reichem historischem<br />

Material das Literarische als Kampffeld zwischen der ideologischen Macht<br />

der Moral und der amoralischen Kraft der literarischen Imaginationen.<br />

Besonders aufschlußreich ist die Untersuchung des Verhältnisses von Philosophie, Literatur<br />

und Moral im 18. Jahrhundert. Lenk sieht Descartes' Konstruktion einer »rationalen<br />

Seele« in der Tradition der scholastischen Theologie, die aus Furcht vor teuflischem<br />

Sinnentrug alles Sinnliche ablehnte. Die frühbürgerliche Ästhetik reagiert nun auf<br />

das rationalistische Verdikt alles Sinnlichen, indem sie das Ästhetische inhaltlich an das<br />

Ideal moralischer Vollkommenheit und formal an das Ideal von Harmonie und Proportion<br />

bindet (206ff.). Die Aufwertung des Ästhetischen wird mit dem Preis seiner Moralisierung<br />

und Rationalisierung bezahlt: die »moralischen Märchen« der Gebrüder Grimm<br />

(56ff.) und die »vernünftigen Träume« der deutschen Romantiker (218ff.) liefern hier<br />

eindrucksvolle Belege. Die ideologische Funktion der bürgerlichen Literatur sieht Lenk<br />

darin, daß von nun an die »Fiktion von einem Einheit stiftenden ästhetischen Ich« (259)<br />

dominiert. Diese Fiktion wird aufgelöst durch die »traumartige Literatur« des 19. Jahrhunderts,<br />

die die alltäglichen Erfahrungen untergräbt und die konventionelle Sprache<br />

zertrümmert. Lenk analysiert die Werke von Lewis Caroll (265ff.) und Lautreamont<br />

(274ff.) als Wegbereiter einer »radikalen Modeme«, alle anderen Autoren - etwa die<br />

Surrealisten - fallen hinter diese beiden Autoren zurück. Die literarische Moderne<br />

schrumpft hier auf zwei Autoren, deren »traumartiger Schreibweise« allein eine ideol0-<br />

gie<strong>kritische</strong> Wirkung zugeschrieben wird - die Traum-Perspektive führt hier zu einer<br />

extrem verengten Antwort auf die wichtige Frage nach den gesellschaftlichen Funktionen<br />

von Literatur.<br />

In einem verallgemeinernden Kapitel versucht Lenk, den Begriff des Ästhetischen<br />

»nicht von der Institution Kunst, sondern vom Traum her« zu entwickeln (27). Die<br />

Kunst soll zwischen der »träumenden Subjektivität« und dem gesellschaftlichen Gesche-<br />

DAS ARGU:vIENT 148/1984

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