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Fragen eines neuen linken Projekts - Instituts für kritische Theorie ...

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Giulio Girardi<br />

Marxismus und revolutionäre religiöse Erfahrungen*<br />

1. Eine neue Tatsache: Christen nehmen an revolutionären Kämpfen teil<br />

Zu den wichtigsten <strong>neuen</strong> <strong>Fragen</strong>, mit denen die marxistische Diskussion sich<br />

heute auseinanderzusetzen hat, gehören diejenigen, die durch die Beteiligung<br />

gläubiger Menschen an Befreiungskämpfen - sei es in Europa, sei es vor allem<br />

in einigen Ländern der dritten Welt - aufgeworfen werden. Es handelt<br />

sich um ein Phänomen, das Marx nicht vorhergesehen hatte und das auch, auf<br />

der Grundlage seiner Prämissen, unvorstellbar war. Für den Marxismus bedeutet<br />

es eine Herausforderung, aber auch ein unerwartetes Zeichen der Vitalität.<br />

Das chilenische Experiment markiert, was die zeitgenössische Geschichte der<br />

Beziehungen zwischen Christentum und Revolution angeht, den Wendepunkt.<br />

Hier haben Christen politische Konsequenzen aus einer Bewegung gezogen, die<br />

vom vatikanischen Konzil ausgegangen und in Südamerika von der ersten<br />

kontinentalen Versammlung der Bischofskonferenz - der von Medellin -<br />

aufgenommen worden war. In Chile haben sich Christen zum ersten Mal kollektiv<br />

und öffentlich an einer Revolution des Volkes beteiligt. Auch wenn das<br />

Experiment gescheitert ist, hat es doch, was christliches Denken angeht, eine<br />

Umkehrung der historischen Tendenz deutlich gemacht. Es wird nach Chile in<br />

Lateinamerika keine Revolution mehr geben, in der nicht Christen präsent<br />

sind. Die Bewegung »Christen <strong>für</strong> den Sozialismus«, <strong>für</strong> die gerade die chilenische<br />

Erfahrung entscheidend war, hat diese neue Parteinahme von Christen<br />

auf kontinentaler Ebene und dann auch in der ganzen Welt unterstrichen.<br />

Heute sind es vor allem die revolutionären Kämpfe in Zentralamerika, in Nicaragua,<br />

EI Salvador und Guatemala, an denen sich die Tragweite dieser Wende<br />

in aller Deutlichkeit ablesen läßt.<br />

Aber inwiefern handelt es sich bei der Beteiligung von Christen an revolutionären<br />

Kämpfen um ein neues Faktum? Gewiß, so etwas geschieht nicht zum<br />

ersten Mal. In verschiedenen Epochen hat es Versuche gegeben, den Glauben<br />

in revolutionäre Ansprüche umzusetzen, ja, sie durchziehen die gesamte Geschichte<br />

des Christentums. Aber die offlzielle Geschichtsschreibung hat von ihnen<br />

immer nur im Kapitel mit der Überschrift» Häresien« Notiz genommen,<br />

denn diese Bewegungen gingen von - in der Regel marginalisierten, verfemten<br />

- Minderheiten aus.<br />

Als neue Bewegung definiert sich das neue Christentum der Gegenwart einmal<br />

aus seinem Verhältnis zur offiziellen Position der Kirche und der großen<br />

Mehrheit ihrer Mitglieder. Es definiert sich zugleich aus seinem Verhältnis zu<br />

den revolutionären Formen der vergangenen Jahrhunderte, zumal zu denen,<br />

die Marx, Engels und Bloch analysiert haben. Das gegenwärtige revolutionäre<br />

• Stark gekürzte, von Friedhelm Hase ins Deutsche übertragene Fassung <strong>eines</strong> Artikels aus Criliea<br />

marxisla, n.2-3, 1983, 155f., den der Autor Lucio Lombardo Radice gewidmet hat.<br />

DAS ARGUMENT 148/1984 ©

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