Fragen eines neuen linken Projekts - Instituts für kritische Theorie ...
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872 Giulio Girardi<br />
Christentum ist ja entstanden, nachdem sich der Marxismus als wissenschaftliche<br />
<strong>Theorie</strong> der Revolution konstituiert hat. Wenn sich heute Bewegungen in<br />
der politischen Ausrichtung am christlichen Glauben orientieren, so geschieht<br />
das also nicht mehr, wie zu den Zeiten <strong>eines</strong> Thomas Münzer oder Jan Hus, in<br />
Abwesenheit einer wissenschaftlichen <strong>Theorie</strong>. Dieses Nebeneinander (von<br />
Glauben und Wissenschaft) hat viele Theoretiker der Revolution und nicht zuletzt<br />
Marx selbst dazu veranlaßt, in religiösen Haltungen eine Gefahr <strong>für</strong> das<br />
revolutionäre Engagement und daher <strong>für</strong> die Festigkeit der Bewegung zu sehen,<br />
eher jedenfalls als einen positiven Beitrag zu ihnen: Der religiöse Weg<br />
zum politischen Engagement stand <strong>für</strong> sie in Konkurrenz zum Rationalen und<br />
Wissenschaftlichen.<br />
Tatsächlich aber hat, etwa im Falle Zentralamerikas, revolutionäres, religiöses<br />
Denken eher eine Öffnung gegenüber wissenschaftlichen Analysen und sogar<br />
ein Bedürfnis danach zur Folge. Im Bewußtsein einer wachsenden Zahl aktiver<br />
Kämpfer existieren Glaube und wissenschaftliche Ami.lyse der Gesellschaft<br />
ohne Widerspruch nebeneinander, was um so paradoxer ist, als diese<br />
wissenschaftliche Analyse <strong>für</strong> gewöhnlich vom historischen Materialismus inspiriert<br />
ist. Es ist eine Koexistenz ohne Widerspruch, aber nicht ohne Probleme.<br />
Das wird besonders deutlich, wenn sich die materialistische Analyse mit<br />
der christlichen Religion selbst befaßt. Für die Gläubigen ist dies mit <strong>neuen</strong><br />
Einsichten in die tatsächliche Reichweite ihres Christseins verbunden, es führt<br />
aber auch dazu, daß ihre Gemeinschaft, ihre Ideologie und ihre eigene Vergangenheit<br />
in Frage gestellt werden. Bei einigen hat diese Probe den Verlust des<br />
Glaubens zur Folge, doch bei vielen erweist er sich nicht nur als widerstandsfähig,<br />
sondern geht sogar gefestigt und erneuert aus ihr hervor. Es ist vielleicht<br />
der paradoxeste Aspekt dieser Erfahrung, daß der Marxismus, den man herkömmlicherweise<br />
<strong>für</strong> den prinzipiellen Gegner des Glaubens in der modernen<br />
Welt hält, Gläubigen zur Festigung ihres Glaubens dient.<br />
2. Probleme, die durch diese Tatsache aufgeworfen werden<br />
Erste Frage: Steht revolutionäres Engagement im Widerspruch zur Religion als<br />
solcher oder nur zu den meisten ihrer historischen Formen? Mit anderen Worten:<br />
ist der oft reaktionäre Charakter des Religiösen mit seiner Natur oder nur<br />
mit bestimmten Realisierungsformen desselben verbunden? Sind gläubige Revolutionäre<br />
trotz oder kraft ihres Glaubens revolutionär?<br />
Für Lenin, Stalin und die sowjetischen Lehrbücher des »Marxismus-Leninismus«<br />
ergibt sich aus einigen prinzipiellen Annahmen, daß alle Religionen<br />
Feinde der revolutionären Bewegung sind. Marx, Engels und Bloch, die sicher<br />
gegenüber religiösen <strong>Fragen</strong> einen offeneren Standpunkt einnehmen, gelingt es<br />
nicht defInitiv, diese Schlußfolgerung zu vermeiden. Wenn man nun, im Sinne<br />
<strong>eines</strong> <strong>neuen</strong> marxistischen Verständnisses, der Überzeugung ist, daß Religion<br />
nicht notwendig reaktionär ist, sondern revolutionär sein kann, wird man sich<br />
fragen müssen, aus welchen theoretischen - und nicht nur historisch zufälligen<br />
- Gründen die entgegengesetzte These sich durchgesetzt hat und was sich<br />
auf der Ebene prinzipieller Annahmen ändern muß, wenn die genannte<br />
Schlußfolgerung vermieden werden soll.<br />
DAS ARGUMENT 148/1984 ©