Schwarzbuch - GEW
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Aglaja Beyes-Corleis:<br />
>>Ein Tag im Leben<br />
einer Integrationskurslehrerin<br />
Es ist kurz nach acht und Amelia schließt<br />
ihr Rad ab. „Brrr, was für eine Kälte,“ denkt<br />
sie. Aber das Geld für die Busfahrkarte spart sie<br />
sich lieber und an ein Auto ist sowieso nicht zu<br />
denken – als freie Honorarkraft für „Deutsch<br />
als Zweitsprache“. Mit ihr treffen auch die ersten<br />
Festangestellten ein, die im Sekretariat oder<br />
in der Anmeldung arbeiten. Die Unterrichtenden<br />
dagegen – das Herzstück der Schule, wie es<br />
immer in den Festreden heißt – sind alle Freie,<br />
wie sie. Amelia unterrichtet in Integrationskursen<br />
für Zuwanderer mit einem besonderen<br />
Schwerpunkt: Alphabetisierung. Sie liebt ihre<br />
Arbeit, weil sie Menschen eine Chance gibt, die<br />
am Rande der Gesellschaft stehen, die bislang<br />
chancenlos waren.<br />
Seit 2005 der Deutsche Bundestag das Zuwanderungsgesetz<br />
verabschiedet hat, müssen alle<br />
Ausländer, die auf Dauer in Deutschland leben<br />
wollen, Deutsch lernen. Für Neu-Zuwanderer<br />
ist das Pflicht. Sie werden gleich von der<br />
Ausländerbehörde angeschrieben. Wer schon<br />
Jahre oder Jahrzehnte in diesem Lande lebt, hat<br />
das „Recht“ auf einen Integrationskurs. Amelia<br />
weiß: Seitdem es diese Kurse gibt, werden viele<br />
Analphabeten unter Migranten „entdeckt“, für<br />
die sich jahrzehntelang niemand interessierte.<br />
„Endlich habe ich die Chance, Lesen und<br />
Schreiben zu lernen“, sagt ihr ein marokkanischer<br />
Teilnehmer, der schon über dreißig<br />
Jahre in Deutschland lebt und akzentfreies<br />
Deutsch spricht. Er besucht denselben Kurs<br />
wie eine junge Äthiopierin, die erst seit sechs<br />
Monaten in Deutschland ist, hier heiratete und<br />
immerhin das amharrische Alphabet kennt,<br />
nicht aber unsere Buchstaben. Und dann ist da<br />
ein Junge aus Afghanistan, der mit fünfzehn als<br />
unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach<br />
Deutschland kam und nie eine Schule besuchte.<br />
Weil er für das deutsche Schulsystem nicht die<br />
Voraussetzungen erfüllte, schickte man ihn zu<br />
ihr. Menschen aus dutzenden Ländern und vielen<br />
Sprachräumen sitzen hier zusammen, im Alter<br />
von 16 bis 66, mit und ohne Deutschkennt-<br />
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