30 Humusschicht zu decken, auf der Gras und alle möglichen Pfl anzen, die der Wind heranträgt, aufwachsen können. Dadurch sollte auf dem Dach gleichbleibende Feuchtigkeit gewährleistet werden. Flachdach und Dachgarten haben Le Corbusier schon sehr früh, in La Chaux-de-Fonds, beschäftigt. Man sieht es an den Zeichnungen für eine Villa am Meeresufer, die Jeanneret für den Modekönig Paul Poiret skizziert hat. Man kann hier vielleicht noch nicht von Dachgarten sprechen. Hingegen sind aus den Jahren 1915 bis 1916 verschiedene Skizzen erhalten, die fl ache Dächer vorsehen, auf denen eine Art «Belvedere» angeordnet ist. Auf einem bisher unveröffentlichten Blatt, das wahrscheinlich in diesen Zusammenhang gehört, zeichnet Jeanneret sogar kühn zwei große Bäume auf das Dach. Ohne Zweifel geht solches auf Eindrücke zurück, die der Architekt 1911 während seiner Mittelmeerreise gewonnen hatte. In dem kleinen Häuschen, das Le Corbusier 1923 bei Vevey am Genfersee seinen Eltern baute, hat er die Idee zum erstenmal realisiert. Die Humusschicht mit ihrer wechselnden Vegetation arbeitet noch heute als perfekter Wärme- und Kälteisolator. Von alledem hat Le Corbusier in dem kleinen Büchlein «Une petite maison» berichtet. «On monte sur le toit. Plaisir qui fut celui de certaines civilisations à certaines époques ...» - Nicht zufällig mischt sich in die Beschreibung dieses Hausdachs am Genfersee neuerdings die Assoziation des Hochseedampfers : «Appuyé sur la rambarde du navire ... Appuyé sur le bord du toit ...» Deutlich navale Züge zeigen die Dachgärten der Villa Stein in Garches und vor allem der Villa Savoye in Poissy. Sie enthalten im Keime die dramatischen plastischen Formationen auf den Dächern der «Unités d‘Habitation» in Europa und auf den Dächern des Sekretariatspalasts und Parlaments in Chandigarh. Sigfried Giedion betont: «Bei Frank Lloyd Wright müssen wir um die Häuser herumgehen, um ihre Formation zu erfassen. Jetzt aber konnte ein Haus zugleich von oben und von unten gesehen werden; in einem gewissen Sinne stellt es eine Fläche dar, die sich nach oben öffnet.» Es ist die Inspiration des Hochseedampfers, die der Architektur diese neue räumliche Dimension verlieh. 3. Der freie Grundriß In der bisherigen Architektur war der Plan der Sklave der tragenden Mauern gewesen. Nun war es möglich geworden, die Wände freizustellen, je nach den Bedürfnissen des Innenraums. Bereits 1914/15 hatte Jeanneret- Le Corbusier den Weg zu einer wirklichen Flexibilität in der Architektur vorgezeichnet: in einigen seiner Entwürfe für den Domino-Bautyp, wo sich die Fassaden, ganz ohne Kompositionsabsicht, nach den zufälligen Bedürfnissen der Bewohner ergeben sollten. Freilich: in Le Corbusiers Bauten der zwanziger Jahre wurde diese Flexibilität einem rigorosen künstlerischen Ordnungswillen unterworfen. Aber es gibt immer wieder Momente, wo der Gedanke der vollständigen Selbstbestimmung der einzelnen Bewohner klare Gestalt gewinnt. Am großartigsten in Le Corbusiers «Plan Obus» für Algier (1930). Gemessen am «Plan Obus» ist die «Flexibilität» der frühen Bauten relativ bescheiden; aber sie war immerhin etwas grundlegend Neues. In dem langgestreckten Haus an der Weißenhofsiedlung führte Le Corbusier Schiebewände ein, die die gesamte, breit gelagerte Wohnung des Nachts in drei Schlafräume unterteilten. Der gleiche Gedanke erscheint auch später wieder. Die Wohn- respektive Schlafräume wurden in Stuttgart durch einen langen Korridor erschlossen, dessen Maße von den Schlafwagen der «Compagnie Internationale des Wagons-Lits» übernommen waren. Alfred Roth, der die Bauführung der beiden Häuser innehatte, erzählt, daß damals in Stuttgart viel gelacht wurde - denn es war nicht für alle schwäbischen Besucher leicht, in diesen engen Korridoren zu zirkulieren. Allerdings war gerade die Siedlung Weißenhof ein Beispiel dafür, daß der «freie Grundriß» Le Corbusier nicht nur dazu diente, die Wohnung wirklich beweglich zu machen, sondern vor allem dazu, sie seinen räumlichplastischen Absichten zu unterwerfen. Nicht nur Wandschränke, sondern auch Tische und im oberen Geschoß sogar ein Bett wurden in Beton ausgeführt! 4. «La fenêtre en longueur» Bereits das Domino-Projekt enthielt im Keime die Möglichkeit, Fenster unbeschränkt in die Länge zu ziehen. Aber Jeanneret hatte dies damals, 1914/15, noch nicht gesehen. (Allerdings war bereits 1908/1909, im Atelier Perrets, sein Arbeitstisch vor einer Art «fenêtre en longueur» gestanden.) Es war Walter Gropius, der den Gedanken etwas später in architektonische Gestalt übertragen hatte, nämlich in seinem Fabrikgebäude an der Werkbundausstellung in Köln, 1914. Jeanneret kannte diesen Bau und war sich über seine entwicklungsgeschichtliche Bedeutung im klaren. Er war nämlich zum Schluß der Werkbundausstellung im Juli 1914 nach Köln gereist. Es dauerte aber noch einige Jahre, bis das Fensterband im Vokabular Le Corbusiers auftaucht. Man fi ndet es zuerst, wenn auch in bescheidenen Ausmaßen, im Obergeschoß der Villa in Vaucresson. Dann erscheint es wieder, auf 11 Meter gestreckt, in dem kleinen Häuschen am Genfersee (1923); auch hier ist es noch Element einer deutlich symmetrischen Komposition. Seine Enden stoßen keineswegs an die Ecken des Baus, noch führen sie gar, wie bei den Faguswerken von Gropius (1911), um die Ecken herum. Der Prospekt eines Photographen brachte nun für die «5 Punkte» den «wissenschaftlichen» Beweis dafür, daß diese Fensterform mehr Licht ins Haus bringt als die traditionelle: hier wurden die Photographen angewiesen, in einem Raum mit «fenêtre en longueur» viermal weniger lang zu belichten als in einem normalen Zimmer. «La pellicule sensible a parlé. Ergo!» Es war das «fenêtre en longueur», das den Grundriß des Häuschens am Genfersee so stark in die Breite zog. Denn nun war es möglich, alle Räume
gleichmäßig zu erhellen. Das breitgelagerte Haus mit dem Bandfenster, das übrigens als Schiebefenster («fenêtre coulissante») konzipiert war, stellt nun die eigentliche Alternative zum Kastentyp des «Maison Citrohan» dar. Die beiden Alternativen stehen in Stuttgart, beide auf Pilotis, gleich nebeneinander. Demgegenüber sind die Villenbauten Le Corbusiers in den zwanziger Jahren höchst komplexe Adaptionen aller hier dargelegten Prinzipien. In dem Entwurf für den Völkerbundspalast gelangte jedoch die Idee des Fensterbandes zu einer Entfaltung, die alles bisher Gesehene übertraf. Die «fenêtres en longueur» wurden hier bis 200 Meter in die Breite gezogen. 5· Die freie Fassade Sie ist die unmittelbare Konsequenz aller dieser Prinzipien. Denn es war für Le Corbusier von vornherein klar, daß nicht an allen Stellen des Hauses Fenster notwendig waren. Nun war es eine Frage der Komposition, offene und geschlossene Partien gegeneinander abzuwägen. aus: Le Corbusier -Elemente einer Synthese, Stanislaus von Moos 31