vierteljahrshefte für zeitgeschichte - Institut für Zeitgeschichte
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42 Michael H. Kater<br />
Reichspräsidialamt, sondern auch vom Reichsinnenministerium, von Militärstellen<br />
oder auch von den Länderregierungen 59 , erlassen werden konnten. Das mochte<br />
zwar kurzfristig zu einer Kompetenzverwirrung auf Kosten einzelner Staatsorgane<br />
führen, bewirkte auf lange Sicht aber eine generelle Kompetenzerweiterung<br />
zugunsten der Staatsexekutive schlechthin. Der Berliner Anwalt Dr. Robert<br />
Hilb, Justitiar der Elektrowerke A.-G., hat dies 1925 anhand treffender<br />
Beispiele zeigen können. Eine Verordnung des Reichspräsidenten vom 13. Januar<br />
1920 habe als lebenswichtige Betriebe die „öffentlichen Verkehrsmittel sowie alle<br />
Anlagen und Einrichtungen zur Erzeugung von Gas, Wasser, Elektrizität und<br />
Kohle" bezeichnet. Am 25. Oktober 1923 indessen habe der Befehlshaber des<br />
Wehrkreises III in Berlin als lebenswichtige Betriebe alle Anlagen aufgeführt,<br />
die „zur Erzeugung und Lieferung von Gas, Wasser und Elektrizität dienen,<br />
die Kanalisation, alle Anlagen zur Erzeugung, Bearbeitung und Verteilung von<br />
Lebensmitteln, Notendruckereien aller Art, die öffentlichen Verkehrsmittel einschließlich<br />
der Post- und Telegraphenanlagen und die Krankenanstalten . . .<br />
[sowie] sämtliche Anlagen zur Gewinnung, Weiterverarbeitung von Brennstoffen<br />
aller Art über und unter Tage" 60 .<br />
Die von Anbeginn erkennbare prinzipielle Bereitschaft der Behörden, die Interpretation<br />
des Schlüsselbegriffs „lebenswichtig" eher großzügig zu handhaben,<br />
mußte zwangsläufig früh zur Aufnahme solcher wirtschaftlicher Betriebsarten<br />
in die Protektionslisten führen, deren Erzeugnisse sachlich nicht als lebenserhaltend<br />
anzusehen waren. Als hervorstechendstes Beispiel seien hier Herstellungsfirmen<br />
<strong>für</strong> Spirituosen erwähnt. Die unglückliche Einstufung von Brennereien<br />
als „lebenswichtig" bereits in den „Richtlinien" vom 2. Februar 1920 wurde<br />
in den zwanziger Jahren zum beliebtesten Streitobjekt der Linksradikalen in<br />
ihrem Kampf gegen die Technische Nothilfe; die Regierungsparteien aber gaben<br />
sich gegenüber den Kommunisten eine unnötige Blöße 61 . Inwieweit Brauereien<br />
lebenswichtig seien, wurde im Reichstag 1928 schließlich auch von Sozialdemokraten,<br />
nicht ohne spöttischen Seitenblick auf die bayerischen Abgeordneten,<br />
gefragt. Was diesen Punkt anging, so bemühten sich die Propagandisten der<br />
Technischen Nothilfe seit 1920 besonders, die TN-Aktionen in den Bierfabriken<br />
(unter Hinweis auf die Notwendigkeit von Pferdepflege und Malzerhaltung)<br />
plausibel zu machen; schließlich hatten allein im Jahre 1920 von 716 Einsätzen<br />
in „gemeinnötigen" Betrieben 29 in Brauereien stattgefunden, das waren 4 Prozent<br />
der Gesamtheit. Wie verwischt die Grenze zwischen Gütererhaltung und<br />
Güterproduktion bzw. -vertrieb in Wirklichkeit überall war, zeigt gerade der<br />
Fall eines 1928 im Reichstag erwähnten Münchner Bierbrauerstreiks. Den Abgeordneten<br />
wurde vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) unterbreitet,<br />
die TN sei in München nicht <strong>für</strong> Notstandsarbeiten, sondern „unter<br />
59 Beispiel <strong>für</strong> Preußen 1921 bei Scholz, S. 5.<br />
60 Hilb, S. 150. Vgl. dazu auch Peters, Sp. 159 f.<br />
61 Vgl. Nothilfe-Jahrbuch, S. 45; DR 1920, Nr. 22, S. 15; Teno, S. 27.