<strong>Das</strong>, was mal ein Dorf war Von Selina Yildiz und Luis Beyerbach 36 <strong>WIKO</strong> Ausgabe <strong>2023</strong>
Gaimersheim <strong>–</strong> ein Ort, der in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist wie kaum ein anderer in Bayern. Was mit einem Dorf passiert, wenn es zur Stadt wird. Der Versuch, das Wachstum, die Gaimersheimer und ihren Ort zu verstehen. Die Sonne strahlt an diesem Tag auf die Biertische. Vor selbst gebackenem Kuchen, Weißwürsten, Brezen, Schorle, Radler und Bier sitzen die Gaimersheimer. Freunde, Paare und Familien <strong>–</strong> einige von ihnen in bayerischer Tracht. Kinder toben zwischen den Bierbänken, die Eltern plaudern. Am 18. Mai, dem Vatertag, sitzt im Vorhof des Marktmuseums eine Dorfgemeinschaft, die zusammenkommt, wenn es etwas zu feiern gibt. Eine Blaskapelle spielt, Geschirr klirrt, Kinder spielen Fangen und schreien dabei. Die Feuerwehr ist da, die Schützen, der Sportverein und auch die Gaimersheimer Bürgermeisterin sitzt zwischen den Leuten. Wer an einem der Tische Platz nimmt, stellt besser nicht die Frage, wer von den Herren denn „in der Audi“ arbeite. Audi, sagt einer leicht frustriert, sei nicht das Einzige, was Gaimersheim ausmache. Audi sei nur einer von vielen großen Arbeitgebern in der Nähe, ergänzt ein anderer. Nur einer der vier Männer am Tisch arbeitet bei dem Autobauer, er trägt dunkle Tracht und einen Filzhut. Die vier sind alte Freunde, Ur-Gaimersheimer, aktiver Teil der Vereine, der Feste <strong>–</strong> eben Teil von Gaimersheim. Im Neubaugebiet, im nördlichen Teil der Marktgemeinde, drückt sich dagegen die Stille durch die Straßen. Ein modernes Einfamilienhaus reiht sich an das nächste. Sie sind weiß und grau mit flachen Dächern, als wären sie von der Stange gekauft worden. Die Straßen leer, die Gärten gepflegt. Hunderte Häuser, aber keine Familien. Nur ein Vater spielt mit seinem Sohn Ball auf einem Fußballfeld zwischen den Straßen. Die Siedlung wirkt ruhig und weit, als könnte sie noch ewig so weitergehen. Doch der Schein trügt. Seit Jahrzehnten wirkt Gaimersheim wie ein kleiner, aber starker Magnet in Oberbayern. Im vergangenen Jahr lebten knapp über 12.000 Menschen in Gaimersheim. In 50 Jahren hat sich die Einwohnerzahl des Markts mehr als verdoppelt. <strong>Das</strong> liegt unter anderem an der Eingemeindung von Lippertshofen 1976. Doch auch in der Zeit danach ist die Marktgemeinde kontinuierlich weitergewachsen. <strong>Das</strong> Dorf wächst und wächst Der Grund <strong>für</strong> dieses Wachstum steht nur wenige Kilometer entfernt von Gaimersheim: die Audi AG <strong>–</strong> mit ihrer größten Produktionsstätte weltweit. Seit 70 Jahren hat Audi seinen Hauptsitz in Ingolstadt und beschäftigt mittlerweile 40.118 Angestellte in seinen Hallen (Stand 12/2022). Gaimersheim ist <strong>für</strong> Ingenieure und Manager, die bei Audi beschäftigt sind, ein praktischer Wohnort: nah genug, um in Ingolstadt zu arbeiten und weit genug entfernt, um angenehm zu wohnen. Die Marktgemeinde liegt mittlerweile so nah an den zahlreichen Ingolstädter Einkaufs- und Shoppingmöglichkeiten, dass man vom Gewerbegebiet aus zu Fuß zum Westpark gelangen kann. Null Kilometer Luftlinie. Audi in Ingolstadt, Airbus in Manching und das Edeka-Verteilzentrum in Gaimersheim sind namhafte Arbeitgeber. Sie zahlen gute Gehälter, besonders Managern und Abteilungsleitern, die sich im Speckgürtel um ihre Arbeitsstätte herum ansiedeln. So wird das frühere Dorf größer und größer. Bis der frisch gewählte Gaimersheimer Gemeinderat 2008 die Entscheidung trifft, vorerst nur noch moderat weiterwachsen zu wollen. Es scheint, als hätte Gaimersheim Zeit gebraucht, um sich auf weiteres Wachstum einzustellen. Die Marktgemeinde ist eingekesselt von Neubau- und Industriegebiet und Ingolstadt. Inmitten moderner, teurer Ortsteile ruht ein gemütlicher Marktplatz, wie er schon zu Zeiten stand, als Gaimersheim noch ein Dorf war. Ein sauber erhaltener Brunnen und einige Blumentröge zieren die Fläche vor dem Rathaus. Eine Familie ist zum Mittagessen in den Stadtkern gefahren, der Vater mit seinem Audi-E-Scooter und der Rest der Familie mit Fahrrädern. Es ist Sommer, angenehmes Wetter und trotzdem ist die Familie fast alleine hier in der Nähe des Marktplatzes. Im Außenbereich eines Dönerladens setzen sie sich. Sie besetzen vier der unzähligen Stühle, die am und in der Nähe des Marktplatzes stehen. In Sichtweite gibt es mehrere Restaurants, eine Metzgerei, eine Eisdiele, ein Hotel. Wo zu Mittag gegessen werden könnte, herrscht Leere. Die Restaurants sind entweder in der Sommerpause oder ganz geschlossen. Nur wenige Einheimische verlieren sich in der Eisdiele, die gegenüber des Maibaums liegt. Trotz der Leere ist es laut am Marktplatz. Denn eine breite Straße führt direkt durch den ehemaligen Dorfkern <strong>–</strong> und die ist zu Stoßzeiten stark befahren. Ländliche Idylle mit städtischer Fahrzeug-Klangkulisse. Ein ländlicher Ort, dessen Kern an das Dorf erinnert, das es mal war. Doch um diesen Kern herum ist eine Stadt gewachsen, sagt die Frau, auf deren Schreibtisch seit 14 Jahren alle Anliegen landen, die den Markt Gaimersheim betreffen. Es ist ein voller Schreibtisch, beladen mit Aktenordnern und Papierstapeln und er steht in einem geräumigen Büro mit Blick auf den Marktplatz. Andrea Mickel (SPD) ist seit 2008 erste Bürgermeisterin von Gaimersheim, das im Lauf seiner Geschichte abwechselnd von SPD und CSU-Vertretern regiert wurde. Seitdem die Politikerin „ Wir wollen als generationenfreundliche, zukunftsgewandte Gemeinde gesehen werden„ im Amt ist, haben sich im Ort so einige soziale Verbände zusammengeschlossen, die glauben lassen, Gaimersheim ist ein Ort, dem Nachbarschaft und Gemeinschaft noch etwas bedeuten. Die Bürgermeisterin erzählt fließend, spricht bestimmt und doch herzlich, sie kennt alle Details. Seit 2016, zählt sie auf, gibt es einen aktiven Asyl-Helferkreis im Ort, der einmal im Monat ein Café der Begegnungen ausrichtet, <strong>Wirtschaftsmagazin</strong> <strong>WIKO</strong> 37