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Textstrukturen und weibliche Subjektivität in Texten von Leslie ...

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Das mit on bezeichnete Subjekt ersche<strong>in</strong>t verschwommen, weil es doppelt lesbar ist als e<strong>in</strong>zelnes oder plurales<br />

Subjekt. Viele der <strong>in</strong> den on-Sätzen benannten Aktivitäten betreffen e<strong>in</strong>e Vielzahl <strong>von</strong> Personen, <strong>in</strong>sbesondere<br />

dann, wenn die Arbeit <strong>in</strong> der Fabrik evoziert wird: „A l’<strong>in</strong>térieur de l’us<strong>in</strong>e, on fait sans arrêt“ (11). Hier s<strong>in</strong>d<br />

allgeme<strong>in</strong>e Aussagen formuliert, die nicht nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelne Figur me<strong>in</strong>en, sondern die Gesamtheit der<br />

Arbeiter<strong>in</strong>nen.<br />

Daneben f<strong>in</strong>den sich ‚Beschreibungen‘, die offensichtlich die Aktivität e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zelnen Person bezeichnen:<br />

On prend le vélo à c<strong>in</strong>q heures du mat<strong>in</strong>, dans le noir. On arrive, on voit l’us<strong>in</strong>e, de l’autre côté du pont.<br />

On dirait qu’elle est posée sur l’eau [...] Quand on arrive, l’us<strong>in</strong>e est très chaude. On a très froid. (16)<br />

Die Skizzierung des morgendlichen Weges zur Fabrik sowie der subjektive E<strong>in</strong>druck <strong>von</strong> der Fabrik („on dirait<br />

qu’elle est posée sur l’eau“) – wobei die gängige Formel on dirait zur Kennzeichnung e<strong>in</strong>er subjektiven<br />

Sichtweise dient, <strong>und</strong> der E<strong>in</strong>druck, die Fabrik liege auf dem Wasser, den Inhalt der subjektiven Perspektive<br />

darstellt – kann nur auf e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelperson, <strong>und</strong> zwar e<strong>in</strong>e bestimmte E<strong>in</strong>zelperson verweisen. Was diese<br />

ansatzweise <strong>in</strong>dividualisiert, d.h. <strong>von</strong> den anderen anonymen ons unterscheidet, s<strong>in</strong>d nur die äußeren Umstände,<br />

daß sie nämlich mit e<strong>in</strong>em für französische Verhältnisse eher ungewöhnlichen Transportmittel – dem Fahrrad –<br />

zu Arbeit fährt. Auch die Wahrnehmung der Fabrik ist außergewöhnlich, so daß sie nicht e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en<br />

Perspektive zugeschrieben werden kann, sondern als Ausdruck e<strong>in</strong>er persönlichen Sichtweise gelesen werden<br />

kann. An anderen Stellen des Textes suggeriert die Nennung verschiedener Unterkünfte wie Hotel oder<br />

Wohnwagen 507 , daß das unbestimmte Pronomen auf e<strong>in</strong>zelne, möglicherweise unterschiedliche Figuren<br />

verweisen kann. In dem unbestimmten Pronomen s<strong>in</strong>d die Grenzen zwischen den Figuren verschwommen. Das<br />

unbestimmte Pronomen bezeichnet <strong>in</strong> dieser <strong>und</strong> <strong>in</strong> ähnlichen Passagen zwar e<strong>in</strong>zelne, aber ke<strong>in</strong>e als Individuum<br />

identifizierbaren Figuren.<br />

An die Stelle der (nicht vorhandenen) persönlichen Identität tritt jedoch ke<strong>in</strong>e Kollektividentität, denn auch <strong>in</strong><br />

der Gruppe bleibt die E<strong>in</strong>zelne für sich: „On voit les autres faire. On est seule, on est dans ses gestes.“ (14); oder:<br />

„On est assise, toute seule“ (62). Das unbestimmte Pronomen beschreibt ke<strong>in</strong> Wir, ke<strong>in</strong>e Gruppenidentität,<br />

sondern vere<strong>in</strong>zelte Subjekte, die durch die Arbeit isoliert s<strong>in</strong>d.<br />

Das unbestimmte Pronomen bezeichnet also weder e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle noch e<strong>in</strong>e kollektive Identität. Vielmehr<br />

steht es für die Unmöglichkeit, sich <strong>in</strong> der Arbeitswelt der Fabrik als Individuum wahrzunehmen, sich als Ich zu<br />

bezeichnen. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal taucht zwischen den on-Sätzen ganz unauffällig e<strong>in</strong> „je“ auf:<br />

On circule entre des parois <strong>in</strong>formes. Tôle, mou et gras. Quel <strong>in</strong>térêt, quel <strong>in</strong>térêt. Ce fil par terre.<br />

Personne ne peut savoir le malheur que je vois. On est partie chercher. On absorbe tout. On va, on<br />

descend. (14)<br />

Das Ich ersche<strong>in</strong>t wie e<strong>in</strong> Signal dafür, was <strong>in</strong> der Fabrik nicht möglich bzw. vernichtet ist, nämlich<br />

Individualität: „quand on travaille dans l’us<strong>in</strong>e, il y a ça, il y a ce ‘on’ et il y a l’impossibilité d’un ‘je’ qui soit un<br />

‘je’“, erklärt Kaplan <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gespräch über den Text. 508 Das unbestimmte Pronomen kann hier gelesen werden<br />

als Zeichen e<strong>in</strong>es ent<strong>in</strong>dividualisierten Ich. Dies gilt um so mehr als das Ich nur e<strong>in</strong> Zitat ist. „Personne ne peut<br />

savoir le malheur que je vois“ ist die leicht abgewandelte Übersetzung e<strong>in</strong>er Zeile aus e<strong>in</strong>em amerikanischen<br />

Blues, <strong>in</strong> dem es heißt: „Nobody knows the trouble I see, nobody knows my sorrow.“ Diese Zeile läßt Kaplan <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em späteren Roman <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er der Figuren <strong>in</strong> der Orig<strong>in</strong>alsprache zitieren. 509<br />

507 „On habite une roulotte, au milieu d’un champ“ (75).<br />

508 Kaplan / Duras: „Us<strong>in</strong>e“ (1987), S.118.<br />

509 Kaplan: Depuis Ma<strong>in</strong>tenant. Miss Nobody Knows (1996), S.13.<br />

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