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Textstrukturen und weibliche Subjektivität in Texten von Leslie ...

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Die Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Beurteilungsperspektive <strong>von</strong> Figuren <strong>und</strong> Erzähl<strong>in</strong>stanz gleichen sich also dar<strong>in</strong>, daß<br />

sie <strong>in</strong> beiden Fällen als offene Prozesse dargestellt s<strong>in</strong>d, die nicht auf Gewißheiten, def<strong>in</strong>itive Aussagen <strong>und</strong><br />

Gesamturteile abzielen.<br />

2.2. Offenheit als Unabgeschlossenheit<br />

Im ersten Abschnitt dieses Kapitels habe ich gezeigt, wie die Figuren durch e<strong>in</strong>e bestimmte erzählerische<br />

Konstruktion als dynamisch <strong>und</strong> offen entworfen werden. Offen bedeutet, daß sie ke<strong>in</strong>en fest umrissenen<br />

Charakter erhalten, d.h. ihre Persönlichkeit nicht als fertig, abgeschlossen, vollendet ersche<strong>in</strong>t. Dieser Entwurf<br />

wird durch Zuschreibungen auf der semantischen Ebene verstärkt. Der Aspekt des Nicht-Vollendet-Se<strong>in</strong>s ist an<br />

e<strong>in</strong>er Stelle des Romans explizit als positive Eigenschaft dargestellt, <strong>und</strong> zwar als Juliens E<strong>in</strong>druck <strong>von</strong> Anna<br />

beschrieben wird:<br />

Julien est venu chez Anna. Il a retrouvé dans ses pièces cette impression d’<strong>in</strong>achevé, mouvement et<br />

raideur.<br />

Grandes pièces claires, sans rideaux, le ciel qui passe et peu d’objets.<br />

Inachevé, ou plutôt, sur le po<strong>in</strong>t de.<br />

Anna est une personne „sur le po<strong>in</strong>t de“, pense Julien. (43f.)<br />

Da Art <strong>und</strong> Inhalt der Wahrnehmung <strong>von</strong> Erzähl<strong>in</strong>stanz <strong>und</strong> Hauptfiguren übere<strong>in</strong>stimmen, wie ich an anderer<br />

Stelle gezeigt habe, ist es für die Analyse der <strong>in</strong> dieser Passage entworfenen Offenheit nicht <strong>von</strong> Bedeutung, um<br />

wessen Rede es sich formal handelt.<br />

Unvollendetse<strong>in</strong> als Eigenschaft Annas wird nicht negativ konnotiert, sondern mit der näheren Bestimmung als<br />

„sur le po<strong>in</strong>t de“ <strong>in</strong>s Positive gewendet. Diese Formulierung evoziert die Vorstellung <strong>von</strong> Bewegung, die im<br />

übrigen kurz davor auch explizit genannt wird („mouvement et raideur“), – wobei der Begriff Steifheit, auch<br />

e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck <strong>von</strong> Unbeweglichkeit hervorruft <strong>und</strong> damit <strong>in</strong> Widerspruch zu der im Begriff mouvement<br />

be<strong>in</strong>halteten Vorstellung <strong>von</strong> Beweglichkeit steht. Die Evokation dieser latent widersprüchlichen Vorstellung<br />

hebt den mehrfach ausgesprochenen <strong>und</strong> angedeuteten E<strong>in</strong>druck <strong>von</strong> Bewegung jedoch nicht auf, sondern<br />

relativiert ihn.<br />

Nach e<strong>in</strong>em kurzen Wortwechsel mit Anna setzt Julien se<strong>in</strong>e Reflexionen fort.<br />

Une personne habitée par le sentiment qu’on peut, qu’on va trouver. Pas une certitude, cette chose fixe,<br />

massive. Non, mais un sentiment léger, patient, une chaleur. (43f.)<br />

Mit der Anna implizit zugeschriebenen Beweglichkeit <strong>und</strong> Offenheit knüpft Julien <strong>in</strong>haltlich an die<br />

vorhergehenden Überlegungen an. Die sehr vage bleibende Formulierung „habitée par le sentiment qu’on peut,<br />

qu’on va trouver“ wird konkretisiert, <strong>in</strong>dem sie <strong>in</strong> Opposition gesetzt wird zu e<strong>in</strong>er Vorstellung <strong>von</strong> Gewißheit.<br />

Der Begriff Gewißheit wird negativ bestimmt als Festgelegtse<strong>in</strong>, Unbeweglichkeit, Unveränderlichkeit <strong>und</strong><br />

Massivität („une certitude, cette chose fixe, massive“).<br />

2.3. Offenheit als Gegenteil <strong>von</strong> Gewißheit <strong>und</strong> Wissen<br />

Die hier speziell <strong>in</strong> Bezug auf Anna evozierte Offenheit ist <strong>in</strong> unterschiedlichem Ausmaß allen Figuren als<br />

Disposition eigen.<br />

Der <strong>in</strong> der oben zitierten Passage als Gegensatz zu Offenheit angeführte Begriff certitude be<strong>in</strong>haltet die Aspekte<br />

der Sicherheit <strong>und</strong> des Wissens. Beide f<strong>in</strong>den sich auch an anderer Stelle des Textes, wo sie zur näheren<br />

Bestimmung <strong>von</strong> Me<strong>in</strong>ungsäußerungen herangezogen <strong>und</strong> dabei ebenfalls negativ konnotiert werden.<br />

In den Überlegungen <strong>und</strong> Gesprächen der Hauptfiguren f<strong>in</strong>det sich immer wieder Kritik an Aussagen, die sich<br />

auf e<strong>in</strong> vorgebliches Wissen stützen: Def<strong>in</strong>itiv formulierte Äußerungen, die Anspruch auf Wahrheit erheben,<br />

werden <strong>von</strong> den Figuren nicht geduldet. Daß sie sich um e<strong>in</strong>e differenzierte Betrachtungsweise bemühen <strong>und</strong><br />

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