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Textstrukturen und weibliche Subjektivität in Texten von Leslie ...

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VI. Zwischen Selbstauflösung <strong>und</strong> Selbstbehauptung:<br />

Das <strong>weibliche</strong> Subjekt <strong>in</strong> Le crim<strong>in</strong>el<br />

Nach ihren ersten beiden <strong>Texten</strong>, L’excès-l’us<strong>in</strong>e <strong>und</strong> Le livre des ciels 542 , die sich mit dem Thema Fabrik<br />

befassen, beschäftigt sich Kaplan 1985 <strong>in</strong> ihrem dritten Buch mit e<strong>in</strong>em anderen sozialen Raum: Le crim<strong>in</strong>el<br />

spielt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kl<strong>in</strong>ik für psychisch kranke Menschen.<br />

Schauplatz <strong>von</strong> Le crim<strong>in</strong>el ist e<strong>in</strong> großes, <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Park umgebenes Haus, bei dem es sich offensichtlich um<br />

e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung für psychisch Kranke handelt. Von den BewohnerInnen wird die Kl<strong>in</strong>ik nur als „château“<br />

bezeichnet. Das stellt ke<strong>in</strong>en Euphemismus dar, sondern entspricht dem Charakter des Hauses, der nicht an e<strong>in</strong>e<br />

Kl<strong>in</strong>ik denken läßt. Der Text richtet den Blick auf das Leben der BewohnerInnen, deren Leben geprägt ist <strong>von</strong><br />

<strong>in</strong>dividuellen Freiheiten, Eigenverantwortung <strong>und</strong> geme<strong>in</strong>schaftlichen Unternehmungen. Die mediz<strong>in</strong>ische Seite<br />

bleibt ausgeblendet. Ungewöhnliche Vorkommnisse <strong>und</strong> Verhaltensweisen, beispielsweise e<strong>in</strong>e Frau, die sich<br />

e<strong>in</strong>en Zahn ausreißt, werden zwar erwähnt, stehen aber nicht im Vordergr<strong>und</strong>. Der ‚Wahns<strong>in</strong>n‘ ersche<strong>in</strong>t als<br />

„kle<strong>in</strong>e beunruhigende Störung“, was Kaplan auch <strong>von</strong> der Bühnenfassung ihres Textes erwartet. In e<strong>in</strong>em<br />

Gespräch mit Claude Régy, der Le crim<strong>in</strong>el auf die Bühne br<strong>in</strong>gt, sagt Kaplan: „La folie ne devait pas être<br />

surdramatisée, mais au contraire m<strong>in</strong>ime, comme un petit dérèglement <strong>in</strong>quiétant.“ 543<br />

Der Titel des Textes ist doppeldeutig: Le crim<strong>in</strong>el kann sowohl ‚der Verbrecher‘ als auch ‚das Verbrecherische‘<br />

heißen. Die Bedeutung des Wortes im Text bleibt sehr abstrakt; eigentlich wird nicht ersichtlich, was der Titel<br />

mit dem Inhalt zu tun hat, außer man liest ihn als Verweis auf die Tatsache, daß viele der sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

psychiatrischen Kl<strong>in</strong>ik bef<strong>in</strong>dlichen Personen als Opfer oder Täter mit Gewalttaten zu tun haben könnten. 544<br />

Diese s<strong>in</strong>d jedoch ohne Bedeutung <strong>in</strong> dem dargestellten Geschehen. Die <strong>in</strong>haltliche Kohärenz des Textes entsteht<br />

vielmehr aus dem geme<strong>in</strong>samen Aufenthaltsort der Figuren, nicht aus ihrer Beziehung zu e<strong>in</strong>em Verbrechen, so<br />

daß der Text me<strong>in</strong>er Ansicht nach treffender ‚Le château‘ heißen müßte.<br />

Der Text selbst ist <strong>in</strong> drei große, mit römischen Ziffern überschriebene Teile gegliedert, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

unterschiedlichen Anzahl <strong>von</strong> nicht numerierten Abschnitten unterteilt s<strong>in</strong>d.<br />

Ähnlich wie <strong>in</strong> L’excès-l’us<strong>in</strong>e wird die fiktionale Welt auch <strong>in</strong> Le crim<strong>in</strong>el nicht im eigentlichen S<strong>in</strong>ne erzählt,<br />

d.h. es werden ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der Vergangenheit liegenden Ereignisse aus e<strong>in</strong>er zeitlichen Distanz heraus dargestellt.<br />

Vielmehr wird e<strong>in</strong> Geschehen präsentiert, das sich im Hier <strong>und</strong> Jetzt abspielt – die vorwiegend verwendete<br />

Zeitform <strong>in</strong> Le crim<strong>in</strong>el ist das Präsens. Der Begriff ‚Geschehen‘, der die chronologische Abfolge <strong>von</strong><br />

Ereignissen bezeichnet, ist nicht ganz zutreffend, denn <strong>in</strong> Le crim<strong>in</strong>el werden zwar kle<strong>in</strong>e Begebenheiten<br />

präsentiert, aber der größte Teil des Textes besteht aus der Darstellung <strong>von</strong> Wahrnehmungen, Gedanken <strong>und</strong><br />

Bewußtse<strong>in</strong> <strong>von</strong> Figuren <strong>und</strong> Rede<strong>in</strong>stanz. Dabei werden die Wahrnehmungen usw. nicht ‚beschrieben‘ sondern<br />

<strong>in</strong> dem schon aus L’excès-l’us<strong>in</strong>e bekannten Nom<strong>in</strong>alstil evoziert. E<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nhafter Zusammenhang zwischen ihnen<br />

wird nicht hergestellt.<br />

Im Unterschied zu L’excès-l’us<strong>in</strong>e ist <strong>in</strong> Le crim<strong>in</strong>el e<strong>in</strong>e Chronologie auf der <strong>in</strong>haltlichen Ebene entworfen; der<br />

Text stellt e<strong>in</strong>en bestimmten Zeitabschnitt dar, <strong>und</strong> zwar den Aufenthalt der Hauptfigur Jenny <strong>in</strong> der Kl<strong>in</strong>ik. Er<br />

beg<strong>in</strong>nt mit der Ankunft Jennys <strong>und</strong> endet mit ihrer Abreise. „Le crim<strong>in</strong>el, c’est l’arrivée du temps“ 545 , erklärt<br />

Kaplan. Die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es Zeitablaufs ist die Bed<strong>in</strong>gung dafür, daß sich die Figuren verändern können.<br />

542 Paris (1983).<br />

543 <strong>Leslie</strong> Kaplan / Claude Régy: „‘Le crim<strong>in</strong>el’, une attente“ (1988), S.25.<br />

544 E<strong>in</strong>e der Figuren In Le crim<strong>in</strong>el wird beispielsweise als Vatermörder bezeichnet (vgl. S.17).<br />

545 Kaplan: „Règne“ (1988), S.98.<br />

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