14.01.2013 Aufrufe

Textstrukturen und weibliche Subjektivität in Texten von Leslie ...

Textstrukturen und weibliche Subjektivität in Texten von Leslie ...

Textstrukturen und weibliche Subjektivität in Texten von Leslie ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Mit dem on wird e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Sichtweise entworfen <strong>und</strong> die mögliche Wahrnehmung jeder Person<br />

wiedergegeben, die sich an dieser Stelle im Park bef<strong>in</strong>det. Neben dieser nicht näher bezeichneten Allgeme<strong>in</strong>heit<br />

umfaßt das Pronomen on jedoch auch ganz konkrete Subjekte. Hier ist als erstes zu nennen, deren Position diese<br />

besondere Wahrnehmung überhaupt erst eröffnet. Aufgr<strong>und</strong> der Nähe zwischen Figur <strong>und</strong> Rede<strong>in</strong>stanz – der<br />

Text vermittelt ja den E<strong>in</strong>druck, daß die sprechende Instanz als unsichtbare Beobachter<strong>in</strong> Jenny begleitet –<br />

bezieht sich das unbestimmte Pronomen auch auf diese Rede<strong>in</strong>stanz. Des weiteren schließt es potentiell auch die<br />

LeserIn e<strong>in</strong>. 561<br />

Mir sche<strong>in</strong>t sogar, daß das unbestimmte Pronomen im ersten Abschnitt <strong>von</strong> Le crim<strong>in</strong>el vor allem dazu dient, der<br />

LeserIn e<strong>in</strong>en Platz im Text zu schaffen. Es bietet der LeserIn sozusagen an, sich an die Stelle des Satzsubjektes<br />

on zu denken. Die on-Sätze – „on sent...“ 562 , „on voit...“ 563 , „on entend...“ 564 – geben vor allem s<strong>in</strong>nlich<br />

wahrnehmbare E<strong>in</strong>drücke wieder, so daß die LeserIn angeregt ist, sich die Atmosphäre mit allen S<strong>in</strong>nen zu<br />

vergegenwärtigen.<br />

Es besteht e<strong>in</strong> Unterschied zu den ersten Zeilen des Textes, die aufgr<strong>und</strong> der subjektlosen Evokation die LeserIn<br />

zwar auch dazu e<strong>in</strong>laden, sich an die Stelle des fehlenden Subjekts zu denken <strong>und</strong> den Text damit <strong>von</strong> <strong>in</strong>nen<br />

heraus wahrzunehmen. In diesen ersten Zeilen erhält die LeserIn jedoch ke<strong>in</strong>e lexikalisch verankerte Position im<br />

Text – ihre E<strong>in</strong>beziehung durch diese subjektlose ‚Erzählstrategie‘ erfolgt implizit, woh<strong>in</strong>gegen das kurz später<br />

e<strong>in</strong>geführte on ihr e<strong>in</strong>e explizite Position anbietet.<br />

Die Position der LeserIn im Text hervorzuheben sche<strong>in</strong>t mir deshalb wichtig, weil Kaplan mit dieser<br />

‚Erzählweise‘ gleich mehrere ihrer eigenen Schreibansprüche e<strong>in</strong>löst. Indem sie e<strong>in</strong>e ‚Erzählstrategie‘ kreiert,<br />

die ke<strong>in</strong>e Hierarchien zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Textpositionen aufbaut, erfüllt sie ihren Anspruch, ohne<br />

Machtausübung zu schreiben. Dieser Anspruch ist implizit <strong>in</strong> der Aussage formuliert: „Ça ne m’<strong>in</strong>teresse pas de<br />

maîtriser les choses comme les bons ficeleurs d’histoires“. 565 Kaplan entwirft ke<strong>in</strong>e narrative Instanz, oder<br />

besser: Rede<strong>in</strong>stanz, die das Geschehen dom<strong>in</strong>iert, sondern e<strong>in</strong>e, die auf derselben Ebene mit den Figuren<br />

rangiert.<br />

Erzählt wird nicht aus e<strong>in</strong>er Zentralperspektive; vielmehr wird e<strong>in</strong>e multiple Perspektive mehrerer gleichrangiger<br />

Instanzen entworfen, wobei der LeserIn e<strong>in</strong>e dieser Positionen e<strong>in</strong>geräumt ist. Daß nicht nur Figur/en <strong>und</strong><br />

Rede<strong>in</strong>stanz gleichgestellt s<strong>in</strong>d, sondern die LeserIn ausdrücklich auf derselben Ebene mit ihnen e<strong>in</strong>en Platz<br />

erhält, ist e<strong>in</strong> weiteres Anliegen Kaplans. In e<strong>in</strong>em Gespräch auf den Stil ihrer Texte angesprochen, der ke<strong>in</strong>e<br />

sprachlichen Verb<strong>in</strong>dungen herstellt, gibt Kaplan zu verstehen, daß es die Aufgabe der LeserIn sei, <strong>in</strong>haltliche<br />

Bezüge im Text herzustellen:<br />

Des phrases courtes avec des po<strong>in</strong>ts, ce qui fait mystère, c’est le lien entre les mots, entre les pensées. Il y<br />

a un lien, on le perçoit, enf<strong>in</strong>, j’espère, mais quel est-il? Il n’est pas explicité, j’aimerais que le lecteur le<br />

cherche. Le po<strong>in</strong>t renvoie à une zone ouverte dest<strong>in</strong>ée au lecteur. J’ai ce désir, laisser une place au<br />

lecteur. 566<br />

561<br />

Zur Funktion des on vgl. Monika Fludernik: „Erzähltexte mit unüblichem Personalpronom<strong>in</strong>agebrauch: engl.<br />

one <strong>und</strong> it, frz. on, dt. man“ (1995), S.284.<br />

562<br />

„A cause de la musique, on sent tout d’un coup l’épaisseur des arbres autour...“ (11).<br />

563<br />

„Sur le côté, un kiosque. [...] Par une fenêtre on voit l’<strong>in</strong>térieur vide...“ (13).<br />

564<br />

“Entre les arbres la lumière blanche. On entend encore la rumeur du violon“ (13).<br />

565<br />

Zitiert nach Anto<strong>in</strong>e Gaudemar: „<strong>Leslie</strong> Kaplan. L’excès-l’enfant“ (1987), S.34. Vgl. hierzu auch Abschnitt<br />

4.2. Schreibprozesse.<br />

566<br />

Rolande Causse: „La virgule comme mouvement de pensée chez <strong>Leslie</strong> Kaplan. Entretien.“ (1998), S.176;<br />

(kursiv <strong>von</strong> Kaplan, Unterstreichung <strong>von</strong> mir).<br />

118

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!