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Textstrukturen und weibliche Subjektivität in Texten von Leslie ...

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Dieses Infragestellen des Naturalismus ersche<strong>in</strong>t mir <strong>von</strong> aktueller Bedeutung <strong>und</strong> zugleich durch zwei<br />

geschichtliche Ereignisse bed<strong>in</strong>gt, die uns geprägt haben <strong>und</strong> noch immer prägen, uns, heute:<br />

– zum e<strong>in</strong>en die Entdeckung des Unbewußten durch Freud zu Beg<strong>in</strong>n unseres Jahrh<strong>und</strong>erts. Anders<br />

gesagt: die Entdeckung des Todestriebes, der Wiederholung.<br />

[...]<br />

– zum anderen Shoah, der Versuch, die Juden zu vernichten. Die Nachkriegszeit war <strong>von</strong> der Frage<br />

bestimmt, „wie kann man danach noch schreiben“. Diese Frage ist für mich absolut zeitgenössisch. „Man<br />

kann nach Auschwitz nicht mehr schreiben“ sagte Adorno. Darüber kann man, wie mir sche<strong>in</strong>t, genauso<br />

wenig h<strong>in</strong>weggehen wie über Blanchots „ke<strong>in</strong> Erzählen, nie wieder“: man kann auf naturalistische Art<br />

nicht mehr schreiben. Ich denke, daß der Nazismus das Scheitern des alten Humanismus bedeutete, eben<br />

weil der Genozid e<strong>in</strong> Versuch war, das Morden durch angeblich natürliche Kriterien (die Rasse), durch<br />

die Unterwerfung unter e<strong>in</strong> sogenanntes Naturgesetz zu rechtfertigen. 467<br />

In dieser Argumentation ist der Naturalismus e<strong>in</strong>e Denkform, die e<strong>in</strong>en Willen zur Macht impliziert, <strong>und</strong> die<br />

e<strong>in</strong>gesetzt werden kann <strong>und</strong> auch e<strong>in</strong>gesetzt wurde zur Rechtfertigung <strong>von</strong> Völkermord. Die Ablehnung e<strong>in</strong>er<br />

Denkweise, die <strong>von</strong> natürlichen Gegebenheiten ausgeht ohne deren kulturelle <strong>und</strong> historische Verfaßtheit zu<br />

h<strong>in</strong>terfragen, wird bei Kaplan zu e<strong>in</strong>em ethischen Anspruch an die Literatur.<br />

Kaplan, die selbst jüdischer Abstammung ist, situiert sich damit ausdrücklich <strong>in</strong> der literaturtheoretischen<br />

Diskussion um die Frage, „ob <strong>und</strong> wie das Grauen der Konzentrations- <strong>und</strong> Vernichtungslager literarisch<br />

gestaltet werden dürfe oder könne“ 468 . Dabei erklärt sie die <strong>von</strong> Adorno im Zusammenhang mit der literarischen<br />

Verarbeitung der Lager-Erfahrungen aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit <strong>von</strong><br />

literarischer Gestaltung der Realität zur Gr<strong>und</strong>lage jeglicher ästhetischer Reflexion. Die Aufgabe, neue<br />

literarische Formen zu f<strong>in</strong>den, beschränkt sich für Kaplan nicht auf den Teil der Literatur, der sich mit der<br />

Verarbeitung der jüdischen Geschichte im zweiten Weltkrieg befaßt. „Die Formen, die erf<strong>und</strong>en werden müssen:<br />

sie s<strong>in</strong>d bed<strong>in</strong>gt durch die Frage, die die Geschichte dem Denken <strong>und</strong> der Ethik gestellt hat <strong>und</strong> immer noch<br />

stellt.“ 469<br />

Judith Kle<strong>in</strong> zufolge, auf deren Darstellung ich mich im folgenden beziehe, betrifft e<strong>in</strong>e zentrale Frage das<br />

Problem, wie diese Erfahrungen dargestellt werden können, ohne ihnen nachträglich e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n zuzuschreiben<br />

<strong>und</strong> ohne sie zu verharmlosen. So wende sich Adorno entschieden gegen „abbildende, repräsentierende<br />

literarische Formen“, weil sie „S<strong>in</strong>n <strong>und</strong> Schicksalhaftigkeit der Realität suggerierten“. 470 E<strong>in</strong> gr<strong>und</strong>legender<br />

Aspekt der Erfahrung der Jüd<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Juden bestehe jedoch gerade <strong>in</strong> der absoluten S<strong>in</strong>nlosigkeit ihrer<br />

Verfolgung. Im Unterschied zu den WiderstandskämpferInnen, „die ihre Deportation mit den Begriffen <strong>von</strong><br />

Ursache <strong>und</strong> Wirkung erfassen <strong>und</strong> ihre Vergangenheit auf e<strong>in</strong>e nicht völlig unwahrsche<strong>in</strong>liche Zukunft beziehen<br />

[konnten]“, hatten die politisch nicht engagierten, nicht dem Widerstand angehörigen Juden ke<strong>in</strong>e Erklärung für<br />

das, was ihnen widerfuhr. 471 Die gr<strong>und</strong>legende Erfahrung der Jüd<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Juden bestand also <strong>in</strong> der absoluten<br />

Orientierungslosigkeit, weil diese „Vernichtung um der Vernichtung willen sich <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>en rationalen<br />

Zusammenhang e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>den [ließ].“ 472<br />

Kaplans scharfe Ablehnung traditioneller Formen der Literatur, die sich ihrer Ansicht nach auf s<strong>in</strong>nstiftende<br />

Erklärungsmodelle stützt, erhält im Kontext dieser Nachkriegsdebatte e<strong>in</strong>e zusätzliche Bedeutung. Die<br />

467<br />

Kaplan: „Formen, die zu erf<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d“ (1989), S.117f.; Hervorhebung <strong>von</strong> Kaplan.<br />

468<br />

Judith Kle<strong>in</strong>: „Schreiben nach Auschwitz. Die französische Debatte“ (1994), S.209.<br />

469<br />

Kaplan (1989), S.118.<br />

470<br />

Kle<strong>in</strong>: Literatur <strong>und</strong> Genozid. Darstellung der nationalsozialistischen Massenvernichtung <strong>in</strong> der<br />

französischen Literatur (1992), S.43.<br />

471<br />

Kle<strong>in</strong> zitiert als Beispiel Jorge Semprun: „Wir wußten <strong>in</strong> Buchenwald, warum wir da waren: weil wir<br />

Widerstand geleistet, gegen den Faschismus gekämpft hatten.“ (1992), S.160.<br />

472<br />

Kle<strong>in</strong> (1992), S.160.<br />

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