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Textstrukturen und weibliche Subjektivität in Texten von Leslie ...

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Ob nun die fem<strong>in</strong>istische Theorie Tel Quel den Rang als literarisch-theoretische Avantgarde abgelaufen hat, muß<br />

hier nicht entschieden werden. Wichtig ist mir die Feststellung, daß die Neue Frauenliteratur, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong><br />

ihrer theoretisch reflektierten <strong>und</strong> experimentellen Ausprägung e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle im literarischen Feld der<br />

70er Jahre gespielt hat <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e dom<strong>in</strong>ante Position e<strong>in</strong>nimmt, an der sich die nachfolgenden AutorInnen<br />

orientieren müssen. Voraussetzung für e<strong>in</strong>en gelungenen E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong>s literarischen Feld ist nach Bourdieu<br />

nämlich, daß die zukünftige Autor<strong>in</strong> sich <strong>von</strong> allen anderen unterscheidet, denn „exister c’est différer, c’est-à-<br />

dire occuper une position dist<strong>in</strong>cte et dist<strong>in</strong>ctive“. 284 Um sich e<strong>in</strong>e eigene neue Position schaffen zu können, muß<br />

sie die schon existierenden <strong>und</strong> besetzten Positionen kennen. Diese Kenntnis über den jeweiligen Zustand des<br />

literarischen Feldes muß den AutorInnen jedoch nicht bewußt se<strong>in</strong>:<br />

Il faut et il suffit qu’ils [...] soient ‘dans le coup’, qu’ils soient au courant de ce qui s’est fait et se fait dans<br />

le champ, qu’ils aient le ‘sens de l’histoire’ du champ, de son passé et aussi de son avenir, de ses<br />

développements futurs, de ce qui est à faire... 285<br />

Für die Interpretation <strong>von</strong> <strong>Leslie</strong> Kaplans <strong>Texten</strong> geht es also nicht um die Frage, welche fem<strong>in</strong>istischen<br />

Theorien <strong>und</strong> Texte die Autor<strong>in</strong> im e<strong>in</strong>zelnen kennt, sondern wie sich ihre Texte <strong>in</strong> Bezug setzen zu den<br />

unterschiedlichen fem<strong>in</strong>istischen Positionen ihrer Zeit.<br />

Wenn die fem<strong>in</strong>istische Theorie ke<strong>in</strong>en expliziten Bezugspunkt mehr für die Autor<strong>in</strong>nen der 80er Jahre bildet,<br />

dann liegt dies sicher auch an der allgeme<strong>in</strong>en Zurückhaltung gegenüber Theorien, die durch den Prestigeverlust<br />

speziell der fem<strong>in</strong>istischen Theorie noch verstärkt wird.<br />

Die jungen Autor<strong>in</strong>nen beziehen sich <strong>in</strong> ihren Selbsterklärungen nicht mehr auf Theorien. Sie möchten ihr<br />

Schreiben aus e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Notwendigkeit heraus motiviert sehen. Marie Redonnet beispielsweise, die während<br />

ihrer Psychoanalyse zu schreiben begann, erklärt: „J’ai appris que l’écriture naît d’une torsion de l’être, d’une<br />

expérience violente et s<strong>in</strong>gulière à chacun... 286 <strong>Leslie</strong> Kaplan spricht <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em spezifischen Bedürfnis, das sie <strong>in</strong><br />

Opposition zu e<strong>in</strong>em theoretischen Ansatz sieht:<br />

En écrivant, je ne me suis pas trouvée aux prises avec des théories ou des débats, mais plutôt avec une<br />

exigence, qui fonde pour moi l’acte même d’écrire. 287<br />

Die Ablehnung <strong>von</strong> Theorien als Ausgangspunkt des Schreibens bedeutet jedoch nicht, daß die AutorInnen zu<br />

e<strong>in</strong>em naiven Schreiben jenseits der theoretischen Erkenntnisse der vorausgegangenen Jahrzehnte zurückkehren<br />

wollen. Ala<strong>in</strong> Nadaud ist da<strong>von</strong> überzeugt, daß die Ablehnung <strong>von</strong> theoretischen Ansätzen zur Begründung e<strong>in</strong>es<br />

Schreibprojekts nicht gleichbedeutend sei mit dem Glauben an die Möglichkeit e<strong>in</strong>es vortheoretischen<br />

Schreibens. Vielmehr hätten die AutorInnen die Erkenntnisse aus den Debatten um Nouveau Roman,<br />

Strukturalismus, L<strong>in</strong>guistik, Marxismus, Psychoanalyse <strong>und</strong> – wie ich ergänzen möchte – um die écriture<br />

fém<strong>in</strong><strong>in</strong>e verarbeitet <strong>und</strong> <strong>in</strong> ihre Fiktion <strong>in</strong>tegriert. 288 Als Beispiel dafür, wie diese Erkenntnisse <strong>in</strong> die Fiktion<br />

e<strong>in</strong>gegangen seien, führt er den Umgang mit dem psychologischen Diskurs an:<br />

Je trouve que ce qui est nouveau, et à la différence du roman psychologique traditionnel, c’est que la<br />

psychologie aujourd’hui est <strong>in</strong>tégrée à la texture même de la narration. C’est peut-être le cas, par<br />

exemple, de Marie Redonnet, à savoir celui d’un roman psychologique mais qui ne ‘psychologise’ pas,<br />

c’est-à-dire que les moments psychologiques qui devraient servir à expliquer le comportement des<br />

personnages sont directement <strong>in</strong>tégrés à leur façon d’agir, à la nature de ce qu’ils vivent, dissous dans le<br />

284 Bourdieu: „Le champ littéraire“ (1991), S.24.<br />

285 Bourdieu: „le champ <strong>in</strong>tellectuel“, (1985), S.175f.<br />

286 Redonnet: „Redonne après maldonne“ (1987), S.162.<br />

287 Kaplan: „Chercher à rencontrer le réel, tout le réel“ (1989), S.15.<br />

288 Vgl. „Où en est la littérature? ou Pour un nouvel imag<strong>in</strong>aire“ (1987), S.3, 8; <strong>und</strong> Nadaud <strong>in</strong>: Nadaud /<br />

Sallenave / F<strong>in</strong>kielkraut: „Où en est la littérature? Transcription de l’émission ‘Répliques’ du 10 octobre<br />

1987“ (1988), S.91.<br />

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