01.02.2013 Aufrufe

Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

� � PSYCHOLOGIE<br />

Rituale im Leben von Menschen<br />

mit einer geistigen Behinderung<br />

TEXT: WERNER FRANGER<br />

Rituale erleichtern den Alltag. Unser Leben ist voll<br />

davon. Rituale haben ihren Platz beim Verstehen<br />

von Welt und im Handeln in der Welt. Sie bringen<br />

Sicherheit und Routine, aber auch Starrheit und<br />

Stagnation. Der Begriff „Ritual“ wird meist im Zusammenhang<br />

mit Kindererziehung erwähnt, zum<br />

Beispiel Einschlafritual oder Spielritual. In unserem<br />

Alltag fi nden sich jedoch die unterschiedlichsten<br />

Rituale, Gewohnheiten, Handlungsabläufe.<br />

In diesem Bericht fasst der Autor den Begriff<br />

„Ritual“ wesentlich weiter. Die Verengung alleine<br />

auf Gewohnheiten würde den Blick auf weitere<br />

Aspekte und Wirkweisen von Ritualen verstellen.<br />

Wenn man heute den Begriff „Ritual“ hört, wird er meist im<br />

Zusammenhang mit Kindererziehung erwähnt. Einschlafritual,<br />

Spielritual, Ausziehritual usw. sind Handlungen, die in der<br />

„Ratgeberliteratur“ den Eltern Hilfen und Unterstützung anbieten<br />

wollen.<br />

Es ist schade, dass der Begriff und sein Inhalt weitgehend auf<br />

die Ebene der Kindererziehung reduziert werden. Unbestritten<br />

handelt es sich dabei um Rituale, bei näherem Hinsehen fi ndet<br />

sich in unserem Alltag jedoch eine große Anzahl unterschiedlichster<br />

Rituale, Gewohnheiten, Handlungsabläufe.<br />

Der Begriff „Ritual“ wird hier wesentlich weiter gefasst. Die<br />

Verengung alleine auf Gewohnheiten würde den Blick auf weitere<br />

Aspekte und Wirkweisen von Ritualen verstellen.<br />

Neben Alltagsritualen gibt es noch hochwirksame Rituale,<br />

die Übergänge markieren, z.B. markiert ein Hochzeitsritual den<br />

Übergang vom Single-Dasein zum Leben als Ehepaar. E. Imber-<br />

Black bezeichnet diese Form als „normative Rituale“.<br />

Normative Rituale folgen meist einer genau festgelegten<br />

Struktur und führen durch einen symbolischen Akt in das<br />

„Neue“.<br />

Eine Entscheidung, ob ein Ritual „normativ“ oder „alltäglich“<br />

ist, ist immer nur im Einzelfall möglich. Neben der Häufi gkeit<br />

und der Gefühlsladung kann als Unterscheidungsmerkmal dienen,<br />

dass bei normativen Ritualen das Gefühl im Ritual (im symbolischen<br />

Akt) präsent ist, während bei alltäglichen Ritualen die<br />

Abwesenheit oder das Misslingen der Routinehandlung zu Irritationen<br />

führt. Die starke emotionale Komponente normativer Rituale<br />

zeigt sich beispielsweise darin, dass bei diesen Ritualen die<br />

Menschen oft „zu Tränen gerührt“ sind (z.B. Hochzeiten). Bei all-<br />

16 Leben mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>58</strong> I <strong>Mai</strong> 2008<br />

täglichen Ritualen erwartet das Gehirn einen bestimmten Verlauf,<br />

tritt dieser nicht ein oder ist er gestört, wird eine Irritation<br />

die Folge sein. Beispiel: Wenn man frühmorgens feststellt, dass<br />

kein Kaffee mehr da ist für das gewohnte Muntermachergetränk.<br />

Für manche ist die Irritation dann so groß, dass „der Tag gelaufen<br />

ist“.<br />

Wesentliche Kriterien für ein Ritual sind seine Wirkung auf das<br />

Individuum, seine Gestaltung und die Häufi gkeit der Wiederholung.<br />

Die „Kraft“ oder „Mächtigkeit“ eines Rituals ist erkennbar an<br />

der Bedeutung dieses Rituals für ein Individuum oder eine Gruppe<br />

von Individuen (z.B. symbolisieren Aufnahmerituale die Zugehörigkeit<br />

zu einem Subsystem).<br />

In Ländern, in denen keine Trennung von Zivilgesellschaft und<br />

Religionsgemeinschaft existiert, lässt sich ein wesentlich höherer<br />

Anteil an normativen Ritualen im normalen Alltag fi nden als in<br />

Systemen, die eine Trennung von Religion und politischem System<br />

vollzogen haben. Jedes System (soziale Gruppe, insbesondere<br />

aber Glaubenssysteme) entwickelt Eigenarten im Umgang<br />

der Subsysteme untereinander, die es von anderen Subsystemen<br />

unterscheidbar macht.<br />

Beispiele in Israel stellen dar, wo die religiösen Elemente untrennbarer<br />

Teil des „politischen“ Alltags sind (z.B. Sabbat, Bar-<br />

Mizwa); oder auch der Islam, bei dem im Extremfall die „Sharia“<br />

als weltlich-politische Handelsmaxime eine Gesellschaft bestimmt.<br />

In Asien oder in Südamerika sind mystische Rituale zu<br />

fi nden (z. B. Woodoo, Feuerlaufen, Nagelbrett), die aber Bestandteil<br />

des kulturellen Lebens der jeweiligen Gesellschaft sind. Rituale<br />

sind elementarer Bestandteil von Kultur. Sie halten Verhaltensmuster<br />

für defi nierte Situationen bereit.<br />

In institutionellen Systemen (Firmen, soziale Einrichtungen)<br />

wird im Zusammenhang mit Leitbilddiskussion und Qualitätsmanagement<br />

seit einigen Jahren der Begriff der „Corporate Identity“<br />

bemüht, um identitätsstiftende Elemente zu implementieren.<br />

Dabei werden auch Rituale entwickelt, z.B. die monatliche<br />

Ernennung zum „Mitarbeiter des Monats“. Die wirkliche Kraft<br />

von Ritualen wird im sozialen Bereich nur am Rande erfasst, weil<br />

wichtige Elemente, die Voraussetzung für die Wirksamkeit eines<br />

Rituals sind, nicht beachtet werden.<br />

In Einrichtungen der Behindertenhilfe sind es die Kirchen,<br />

die durch ihre vielen Rituale zur „Kultur“ der Einrichtungen beitragen.<br />

Weltliche Rituale sind äußerst selten. Es existieren in den<br />

meisten Betrieben Rituale für die Mitarbeiter/-innen (z.B. Verabschiedung<br />

in den Ruhestand, Betriebsfeste); für die Klientel reduziert<br />

sich die Möglichkeit ritueller Gestaltung des Alltags aber<br />

erheblich. Es gibt meist keine Aufnahmerituale oder sonstigen<br />

Markierungen von Übergängen von einem Lebensbereich oder<br />

-abschnitt in einen anderen. Es gibt in Einrichtungen keine Traditionen<br />

hierfür und damit fehlen auch die Möglichkeiten, die Vorteile<br />

von Ritualen zu nutzen.<br />

Die meisten sozialen Systeme fallen unter die Kategorie „Unterritualisiert“<br />

in Bezug auf „normative Rituale“.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!