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Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

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� � PSYCHOLOGIE<br />

Anlass „normale“ Welt „behinderte“ Welt<br />

Geburt Feier kein Ritual – Schock für die Eltern<br />

Geburtstag Feier Ritual, aber Erinnerung an Schock<br />

Sauberkeit Positive Konnotation kein Ritual – oft verspätet<br />

Pubertät/Sexualität Aufklärung kein Ritual<br />

Schulabschluss/ Feier Abschluss Ritual<br />

Aufnahme in WfbM<br />

Aufnahme in WfbM kein Ritual<br />

Erwachsen werden Auszug kein Ritual – immer Kind<br />

Familie/Heirat Feier kein Ritual – selten Segnung<br />

Führerschein Positive Konnotation kein Ritual<br />

Umzug Feier selten Ritual<br />

ternteil würde auf die Idee kommen, dass das eigene Kind beerdigt<br />

werden muss, um selbst beruhigt sterben zu können.<br />

Im Behindertenbereich gibt es für diesen Lebensübergang<br />

kein kulturell vorgegebenes Verhaltensmuster. Kein Elternteil<br />

kann andere Eltern fragen, wie sie das bewältigt haben; vor<br />

allem „gut“ bewältigt haben. Es gibt keine Tradition. Wollten wir<br />

also diesen Familien helfen, den Übergang zu schaffen, so wäre<br />

es notwendig, ein Ritual zu gestalten, das eine Vorbereitungszeit<br />

beinhaltet: Abschied, Erinnerung, gemeinsame Erlebnisse,<br />

Dankbarkeit, Trauer, der Gedanke: Wie wird es weitergehen? Das<br />

könnte die Zeit der Entwicklung des Rituals sein, mit einem symbolischen<br />

Akt und einer Zeit der Integration in die neuen Lebensumstände.<br />

Alle drei Phasen müssen in ausreichendem Maß berücksichtigt<br />

werden. Keine darf ausgelassen werden. Unter allen Umständen<br />

aber müsste das Ritual einen symbolischen Akt beinhalten,<br />

der kurz und emotional „mächtig“ das Ereignis komprimiert;<br />

meist im Rahmen einer Feier oder eines Festes. Die Angst machenden/traurigen<br />

und die freudigen/zukünftigen Optionen<br />

werden ausgesprochen.<br />

Mutter: „Es ist sehr traurig, dich nicht mehr bei mir zu haben! Es<br />

ist entlastend, wenn ich nicht immer auf dich aufpassen muss.“<br />

Sohn: „Es ist schön, neue Freunde um mich zu haben. Es ist schade,<br />

dass ich die Schuhe nicht mehr geputzt bekomme.“<br />

Diese oder ähnliche Sätze müssten innerhalb eines Rituals<br />

tatsächlich auch ausgesprochen werden, sonst können sie ihre<br />

emotionale Wirkung nicht entfalten. Analog: „Ja, ich will“ bei der<br />

Hochzeit.<br />

Das scheint mir auch der Punkt zu sein, an dem die Macht normativer<br />

Rituale nicht genutzt wird. So zu verfahren setzt voraus,<br />

sich mit den Betroffenen über einen längeren Zeitraum hinweg<br />

zu beschäftigen, ihnen die Bedeutsamkeit eines Rituals nahezubringen<br />

und mit ihnen zusammen die genau passenden Worte<br />

zu entwickeln und sie auch rituell in einer feierlichen Atmosphäre<br />

vor Zeugen sagen zu lassen.<br />

Reaktionen wie „Da komme ich mir doch blöd vor!“ sind zu erwarten.<br />

Ein Verständnis zu entwickeln und entsprechend zu handeln<br />

wird sicherlich von Seiten der professionellen Begleitung<br />

dieses Übergangs erwartet werden müssen. Die Eltern sind mit<br />

der Entwicklung solcher Rituale überfordert. Sie müssen individuell<br />

an die Gegebenheiten der einzelnen Beteiligten angepasst<br />

werden. Neben der Gestaltung der rituellen Handlung wären die<br />

Vorbereitungen im Sinne von Besuchen, Absprachen und Vertragsverhandlungen,<br />

Einrichtung des neuen Zuhauses u.Ä. und<br />

18 Leben mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>58</strong> I <strong>Mai</strong> 2008<br />

auch der integrativen Aspekt nachher zu bearbeiten.<br />

Was tun die Mitbewohnerinnen und die Mitarbeiterinnen, um<br />

die Eingliederung zu erleichtern (Übergabe der Hausordnung,<br />

Einführung und Vorstellung in der neuen Umgebung u.Ä.)? Was<br />

nimmt die Bewohnerin von zu Hause mit und was symbolisiert,<br />

dass sie immer noch die Tochter, das Kind der Eltern ist (z.B. ein<br />

bedeutsamer Gegenstand, der das Elternhaus darstellt)? Was behalten<br />

die Eltern oder bekommen die Eltern von der Tochter, das<br />

die Anwesenheit im Elternhaus symbolisieren kann? Dies alles<br />

gipfelt in einem Fest, das wirklich bewegend sein sollte. Musik,<br />

Bewegung und Tanz ebenso wie Platz für Tränen, Freude und Essen.<br />

So könnte ein Abschiedsritual als gestaltetes normatives Ritual<br />

im Entwurf aussehen. So könnte der Übergang markiert und<br />

nach außen hin deutlich gemacht werden. Jetzt ist eine neue<br />

Zeit und jetzt gelten andere Regeln in einer anderen Subkultur<br />

als der familiären.<br />

Therapeutische Rituale sind eine Sonderform normativer Rituale.<br />

Im Grunde ist der Unterschied im Setting entscheidend,<br />

denn hier wird das Ritual vom System (z.B. der Familie) mithilfe<br />

der Therapeutin angeregt, ein geeignetes Ritual zu entwickeln,<br />

um fehlgelaufene oder unvollständige normative Rituale aus der<br />

Geschichte des Systems im Nachhinein zu korrigieren.<br />

Alltägliche Rituale<br />

Tabelle 1: Vergleich „normale“<br />

und „behinderte“ Welt<br />

Diese Form des Handelns hat in der Wiederholung die entscheidende<br />

Größe. Alltagsrituale sind strukturbildend. Neurobiologisch<br />

sind diese Handlungsabläufe mit der Bildung eines „cellassembly“<br />

vergleichbar; also eingeprägt/gelernt – und damit<br />

immer wieder reproduzierbar. Ein typisches alltägliches Ritual ist<br />

etwa das immer gleich ablaufende Frühstücksritual. Jeden Tag<br />

ein Mal gemacht – aber wehe, die Zahnpasta-Tube oder der Kaffee<br />

steht an einem anderen Platz.<br />

Der Tag ist „gelaufen“, wir sind irritiert, es stimmt „nichts“ mehr.<br />

Während wir keinerlei Probleme haben, uns in fremder Umgebung<br />

aus dem Waschbeutel zu versorgen oder den Kaffee im Hotel<br />

aus der Warmhaltekanne trotz all dem zu genießen.<br />

„Rituale (...) gelten nunmehr als ,Routinisierung‘, sie sind nun<br />

die Formen der Alltagsbewältigung, mit denen wir, regelmäßig gepfl<br />

egt und wiederholt, unsere Existenz sichern.“ (Bliersbach 2004<br />

S. 26)<br />

Es handelt sich bei den ritualisierten Alltagshandlungen möglicherweise<br />

auch um „leere“ ehemals normative Rituale. Sie sind

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