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Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

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� � NACHDENKLICHES<br />

„Deppen werden geduzt“?<br />

Wer Teilhabe sagt, muss auch Sie sagen<br />

TEXT: THOMAS SCHRECKER<br />

Ein junger Mann sitzt im roten Linienbus. Er begrüßt viele Leute<br />

freundlich, der Busfahrer sagt zu ihm: „Guten Morgen, Moritz!“ Auch<br />

die anderen Pendler kennen „Moritz“ schon. Er fällt auf und ist anders,<br />

er ist ein junger Mann mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong>. Keiner kennt seinen<br />

Nachnamen ...<br />

„Moritz“ ist jetzt 20 Jahre alt. Er will seit einiger Zeit selbst mit öffentlichen<br />

Bussen fahren und ist auch ziemlich stolz darauf. Vor der<br />

Schule für geistig behinderte Kinder und Jugendliche in Heitersheim<br />

begrüßt ihn sein Lehrer, Herr Müller: „Guten Morgen, Moritz! Hat bei<br />

dir alles geklappt?“, und bekommt zur Antwort: „Herr Müller, kannst<br />

du mir sagen, wie ich mit dem Bus nach Freiburg fahren kann? Ich<br />

will dort meine Schwester besuchen.“ „Aber klar“, antwortet Herr<br />

Müller, „das zeige ich dir.“<br />

Höfl ichkeitsregeln an Schulen<br />

für geistig Behinderte<br />

Die Schüler und Schülerinnen an Schulen<br />

für geistig Behinderte werden in aller Regel<br />

bis zu ihrer späten Entlassung – manchmal<br />

erst mit 24 Jahren – von ihren Lehrerinnen<br />

und Lehrern bzw. Betreuerinnen und Betreuern<br />

geduzt und sprechen diese häufi g<br />

mit „Du, Herr Müller“ an. Oft lernen sie in<br />

schulischen Zusammenhängen kaum ihren<br />

Nachnamen kennen, übliche Höfl ichkeitsregeln<br />

sind, im Gegensatz zu anderen Verhaltensnormen,<br />

nicht Unterrichtsgegenstand.<br />

Der beschützte Raum der Schule für geis-<br />

tig Behinderte öff net sich jetzt, zum Beispiel<br />

durch Projekte: „Integration auf dem ersten<br />

Arbeitsmarkt“, das erfordert diff erenzierte<br />

Lerninhalte, die den Anforderungen der<br />

„Welt draußen“ entsprechen, und das erfordert<br />

das Wissen, Menschen siezen zu können.<br />

In der Welt der<br />

Nichtbehinderten ...<br />

Gegenseitige Ehrerbietung oder<br />

Vertrautheit<br />

Unter Erwachsenen wird die Höfl ichkeitsform<br />

normalerweise gegenseitig verwendet.<br />

Die einseitige Verwendung des Duzens<br />

gilt oft als unhöfl ich und als „Verweigerung<br />

<strong>58</strong> Leben mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>58</strong> I <strong>Mai</strong> 2008<br />

der Ehrerbietung“ oder sie ist Ausdruck<br />

eines sozialen Unterschieds. So werden<br />

Menschen, die einfache Tätigkeiten ausüben,<br />

von Höherstehenden geduzt. Die Ursache<br />

hierfür dürft e sein, dass früher Adel<br />

und Klerus das gemeine Volk geduzt haben,<br />

das umgekehrt die Höfl ichkeitsform benutzen<br />

musste.<br />

Kinder werden geduzt<br />

Generell gilt für Kinder, alle Erwachsenen<br />

mit Ausnahme der eigenen Familie und Erwachsener<br />

aus dem Bekanntenkreis zu siezen,<br />

während Kinder normalerweise von<br />

niemand gesiezt werden.<br />

Die Anwendung der Höfl ichkeitsform<br />

ist dabei anfangs ein sich entwickelnder<br />

Prozess: An Grundschulen ist es in der Regel<br />

noch üblich, dass die Kinder ihre Lehrerinnen<br />

und Lehrer zwar mit „Herr“ oder<br />

„Frau“ plus Familienname anreden, aber<br />

dennoch das „Du“ verwenden („Du, Frau<br />

Müller, kannst du mir mal sagen, wie ich die<br />

Aufgabe lösen kann?“). Spätestens ab der<br />

Sekundarstufe II werden aber alle Schülerinnen<br />

und Schüler von ihren Lehrerinnen<br />

und Lehrern gesiezt. In der Regel werden<br />

sie beim Vornamen genannt.<br />

Hierarchie in der Berufswelt<br />

In der Berufswelt kennzeichnet das ungleichzeitige<br />

„Siezen“ vs. „Duzen“ eindeutige<br />

hierarchische Machtstrukturen: Der<br />

Chef wird in der Regel von allen gesiezt.<br />

Kolleginnen und Kollegen, die auf gleicher<br />

Ebene in der Betriebshierarchie stehen, duzen<br />

sich. Auch Antipathien innerhalb des<br />

Kollegiums werden durch das Siezen gekennzeichnet.<br />

Ein einmal verabredetes<br />

„Du“ kann bei Konfl ikten und Abgrenzungstendenzen<br />

wieder zum „Sie“ umfunktioniert<br />

werden. Die Du-Form kann also<br />

Nähe und Vertraulichkeit ausdrücken. Die<br />

Sie-Form kann im Gegensatz dazu Distanz<br />

und Förmlichkeit, aber auch Respekt signalisieren.<br />

Ebenfalls kann über ein „Du“ auch<br />

eine Dominanz angezeigt werden, wenn der<br />

„Höhere“ den „Niedereren“ duzt und der<br />

„Niederere“ den „Höheren“ zu siezen hat,<br />

wie vielleicht der Lehrling den Chef ...<br />

Fehlenden Respekt kann man auch daran<br />

erkennen, wenn Menschen mit schlechten<br />

Deutschkenntnissen beinahe automatisch<br />

geduzt werden.<br />

Duzen als Beleidigung<br />

Der herablassende Beiklang des Duzens<br />

(von oben nach unten) kann durchaus als<br />

gezielte Unhöfl ichkeit benutzt werden. Juristisch<br />

wird dementsprechend von deutschen<br />

Gerichten ein nicht ausdrücklich<br />

erlaubtes Duzen als Beleidigung gewertet,<br />

auch bei Privatpersonen und nicht nur<br />

dann, wenn Amtsträger wie beispielsweise<br />

Verkehrspolizisten geduzt werden. Doch<br />

wird dieses Vergehen, wie alle Formen der<br />

Beleidigung, nur auf Antrag des Beleidigten<br />

strafrechtlich verfolgt.<br />

Höfl ichkeitsgrenze Intelligenz?<br />

Viele dieser Regeln scheinen in der Behindertenpädagogik<br />

nicht zu gelten. Haben die<br />

üblichen Formen der Höfl ichkeit vielleicht<br />

eine IQ- Schranke? Denn wir erleben in unserem<br />

Alltag im Umgang mit Menschen mit<br />

einer geistigen Behinderung nicht, dass das<br />

Alter für die Anrede ausschlaggebend ist.<br />

Orientieren wir uns also am Grad der<br />

kognitiven Einschränkung oder der „Bedürft<br />

igkeit“? Löst das „kindliche“ Verhalten<br />

diesen irrtümlichen Refl ex bei uns aus?<br />

Der geistig behinderte Moritz wird als<br />

„Moritz“ geboren, als „Moritz“ verbringt er<br />

die Schulzeit, als „Moritz“ wechselt er in die<br />

Werkstatt für behinderte Menschen und als

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