Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter
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<strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong>, aber ich soll mir mal keine<br />
Sorgen machen.<br />
Ich hatte die ganze Zeit Jolina im Arm<br />
und konnte nicht wirklich glauben, was<br />
dieser Mann mir da gerade zu erklären versuchte.<br />
Mir kullerten die Tränen über die<br />
Backen – ich wollte mein Baby nicht alleine<br />
lassen. Ich sträubte mich innerlich, die Kleine<br />
in die warme Wolldecke der Schwester<br />
zu legen, aber was blieb mir anderes übrig!<br />
Das ist doch alles viel zu schlimm für<br />
unsere junge Familie<br />
Ich war am Ende! Ich hatte in meinem Leben<br />
noch keine Situation erlebt, in der ich so<br />
viel Angst hatte, und ich wusste nicht, was<br />
es für eine Angst war! Es war ganz schrecklich.<br />
Ich rief meinen Mann an und erklärte<br />
ihm unter Tränen, was ich in den letzten<br />
fünf Minuten erlebt hatte. Die Nachtschwester<br />
war auch etwas hilfl os, ich kann es ihr<br />
nicht übel nehmen. Ich bekam eine Schlaftablette<br />
und war weg. Am nächsten Morgen<br />
holte mich die Realität wieder ein und ich<br />
dachte, das geht nicht, das kann nicht sein.<br />
Alles viel zu schlimm für unsere junge Familie.<br />
Wir wollten doch glücklich sein und<br />
Spaß haben am Leben. Wo ist das Gefühl<br />
der Lebensfreude hin? Kann es durch so ein<br />
paar Worte einfach weg sein?<br />
Ich wurde in die Kinderklinik verlegt<br />
und war nun wieder bei meinem Baby. Sie<br />
wurde am dritten Tag nach ihrer Geburt am<br />
Darm operiert. Die Diagnose lautete Analatresie,<br />
anorektale Fehlbildung ohne Fistel.<br />
Es fehlten bei ihr 0,7 cm vom Enddarm<br />
und ein Ausgang, der Gott sei Dank nicht<br />
künstlich angelegt werden musste. Der vorhandene<br />
Darm wurde in die Länge gezogen<br />
und ein Anus operativ hergestellt. Sie hatte<br />
nun eine ca. 5 cm lange Narbe, die am Anfang<br />
sehr schlecht heilte. Es gab Probleme<br />
mit dem Stuhlgang und auch mit der Nahrungsaufnahme.<br />
Wir mussten jedes Fläschchen<br />
Milch mit 100 ml Inhalt in sie hinein-<br />
tröpfeln. Sie saugte nicht richtig und hatte<br />
auch keinen Appetit. Die Magensonde wurde<br />
nach einem Tag gezogen, irgendwie ging<br />
es. Nur mit der Gewichtszunahme klappte<br />
es einfach nicht.<br />
So viel Ungewissheit<br />
Die Zeit der Ungewissheit und vor allem<br />
der Unwissenheit war für mich sehr schwer<br />
zu ertragen. Meine Familie kam mich und<br />
Jolina täglich besuchen. Diese Besuche waren<br />
jeden Tag das Lichtlein in der momentanen<br />
Dunkelheit. Mein Mann half mir sehr<br />
dabei, Jolina anzunehmen und genauso zu<br />
lieben wie die ersten beiden Kinder!<br />
Nach ungefähr einer Woche lag die Chromosomenanalyse<br />
vor, diese bestätigte den<br />
Verdacht auf freie Trisomie 21. Das war<br />
wieder ein Schock, obwohl wir es eigentlich<br />
schon wussten. Wir saßen oft neben dem<br />
Kinderbettchen auf der Intensivstation und<br />
gingen die typischen Merkmale von <strong>Down</strong>-<br />
<strong>Syndrom</strong> durch. Wir hatten uns im Internet<br />
informiert. Die kleinen Ohren, ja die hatte<br />
sie und die waren supersüß. Die Vierfi ngerfurche,<br />
auch da, aber das kann sich ja noch<br />
entwickeln. Die fl ache Nase, auch das war<br />
off ensichtlich! Aber sie war ein hübsches<br />
Baby! Jetzt aber hatten wir es schwarz auf<br />
weiß, wir hatten ein Kind mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong>.<br />
Und zu allem Überfl uss kamen noch<br />
zwei Herzfehler hinzu, die man mit vier<br />
Monaten voraussichtlich operieren musste.<br />
Das reichte mir. Fünf Tage nach der Geburt<br />
verließ ich das Krankenhaus und fuhr<br />
jeden Tag mit meinem Mann zusammen in<br />
die Klinik, um unsere Kleine zu versorgen.<br />
Mein schlechtes Gewissen den anderen beiden<br />
gegenüber hatte mich nach dem ersten<br />
Schock wieder auf den Boden zurückgeholt<br />
und mich daran erinnert, dass das Leben<br />
nicht stehen bleibt, du hast jetzt drei Kinder,<br />
für die du stark sein musst, für das eine<br />
vielleicht mehr, aber es ist nicht fair, sich in<br />
einem Loch zu verkriechen und zu warten,<br />
bis alles vorbei ist.<br />
Mein Mann und meine ganze Familie<br />
waren mir in dieser Zeit eine riesengroße<br />
Hilfe. Wenn mein Mann und ich Jolina besuchten,<br />
war immer eine Oma bereit, die<br />
Großen zu nehmen, weil sie nicht mit auf<br />
die Intensivstation durft en. Nach vier Wochen<br />
bestand ich darauf, Jolina mit nach<br />
Hause zu nehmen. Die Ärztin war alles andere<br />
als begeistert, aber ich wollte sie endlich<br />
zu Hause willkommen heißen. Füttern<br />
und Wiegen, das klappt zu Hause meist<br />
besser als im Krankenhaus. Der Po war so<br />
weit verheilt, ich musste den Anus täglich<br />
mit einem Metallstab dehnen. Das war eine<br />
wirkliche Quälerei und ich bin froh, dass ich<br />
damit relativ schnell aufh ören konnte. Man<br />
sagte mir, sobald sie festen Stuhl hat, könnte<br />
ich mit dem Dehnen aufh ören. Dann hatte<br />
Jolina festen Stuhl. So fest, dass sie ihn ohne<br />
Hilfe nicht herausgebracht hätte. Es war eine<br />
Gratwanderung mit der Ernährung, damit<br />
der Stuhl genau die richtige Konsistenz hatte.<br />
War es zu weich, wurde sie sofort wund,<br />
dann war ihr empfi ndlicher Po blutig und<br />
off en; wenn er zu hart war, bekam sie es nur<br />
unter heft igen Schmerzen heraus.<br />
Sie nahm nicht zu. Ich hatte fast keine<br />
Nerven mehr. Die Kinderärztin sagte, ich<br />
soll sie alle vier Stunden füttern und auch<br />
nachts wecken. Aber das nützte nichts, sie<br />
nahm eher ab als zu und ich machte mich<br />
� � ERFAHRUNGSBERICHT<br />
immer verrückter. Nach zwei Wochen, als<br />
ich wieder vom Kinderarzt nach Hause fuhr,<br />
dachte ich mir: Julia, was machst du eigentlich?<br />
Das wäre das erste Kind, das freiwillig<br />
verhungert. Mach dir keinen Stress, die<br />
holt sich schon, was sie braucht. Die Kinderärztin<br />
wollte, dass ich mich nach drei<br />
Tagen wieder melde. Wenn sie dann nicht<br />
zugenommen hätte, würde sie uns wieder<br />
in die Klinik schicken. Alles, nur das nicht.<br />
Ich ließ Jolina schlafen, so viel sie wollte.<br />
Weckte sie nicht mehr alle vier Stunden und<br />
auch nachts schlief sie durch. Sie trank auf<br />
einmal zwei kleine Flaschen nacheinander<br />
und das alle sechs Stunden! Nach zwei Tagen<br />
hatte sie 150 Gramm zugenommen und<br />
ich war happy. Es ist zwar super, dass man<br />
Ratschläge von den Ärzten bekommt, aber<br />
manchmal sollte man einfach seinen Menschenverstand<br />
einschalten. Ich glaube, Jolina<br />
war total übermüdet, weil man sie immer<br />
aus dem Schlaf gerissen hat, und hatte<br />
dadurch nur wenig Lust zu trinken. Durch<br />
ihren eigenen Rhythmus kam auch der<br />
Hunger und sie nahm fast automatisch an<br />
Gewicht zu. Sie entwickelte sich gut und<br />
war recht fi del.<br />
Laufen – eine gute Ablenkung<br />
vom Familienstress<br />
Als es meine Narbe vom Kaiserschnitt erlaubte,<br />
fi ng ich an, jeden Tag zu laufen.<br />
Ich brauchte etwas Ablenkung und etwas<br />
Leben mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>58</strong> I <strong>Mai</strong> 2008 61