01.02.2013 Aufrufe

Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong>, aber ich soll mir mal keine<br />

Sorgen machen.<br />

Ich hatte die ganze Zeit Jolina im Arm<br />

und konnte nicht wirklich glauben, was<br />

dieser Mann mir da gerade zu erklären versuchte.<br />

Mir kullerten die Tränen über die<br />

Backen – ich wollte mein Baby nicht alleine<br />

lassen. Ich sträubte mich innerlich, die Kleine<br />

in die warme Wolldecke der Schwester<br />

zu legen, aber was blieb mir anderes übrig!<br />

Das ist doch alles viel zu schlimm für<br />

unsere junge Familie<br />

Ich war am Ende! Ich hatte in meinem Leben<br />

noch keine Situation erlebt, in der ich so<br />

viel Angst hatte, und ich wusste nicht, was<br />

es für eine Angst war! Es war ganz schrecklich.<br />

Ich rief meinen Mann an und erklärte<br />

ihm unter Tränen, was ich in den letzten<br />

fünf Minuten erlebt hatte. Die Nachtschwester<br />

war auch etwas hilfl os, ich kann es ihr<br />

nicht übel nehmen. Ich bekam eine Schlaftablette<br />

und war weg. Am nächsten Morgen<br />

holte mich die Realität wieder ein und ich<br />

dachte, das geht nicht, das kann nicht sein.<br />

Alles viel zu schlimm für unsere junge Familie.<br />

Wir wollten doch glücklich sein und<br />

Spaß haben am Leben. Wo ist das Gefühl<br />

der Lebensfreude hin? Kann es durch so ein<br />

paar Worte einfach weg sein?<br />

Ich wurde in die Kinderklinik verlegt<br />

und war nun wieder bei meinem Baby. Sie<br />

wurde am dritten Tag nach ihrer Geburt am<br />

Darm operiert. Die Diagnose lautete Analatresie,<br />

anorektale Fehlbildung ohne Fistel.<br />

Es fehlten bei ihr 0,7 cm vom Enddarm<br />

und ein Ausgang, der Gott sei Dank nicht<br />

künstlich angelegt werden musste. Der vorhandene<br />

Darm wurde in die Länge gezogen<br />

und ein Anus operativ hergestellt. Sie hatte<br />

nun eine ca. 5 cm lange Narbe, die am Anfang<br />

sehr schlecht heilte. Es gab Probleme<br />

mit dem Stuhlgang und auch mit der Nahrungsaufnahme.<br />

Wir mussten jedes Fläschchen<br />

Milch mit 100 ml Inhalt in sie hinein-<br />

tröpfeln. Sie saugte nicht richtig und hatte<br />

auch keinen Appetit. Die Magensonde wurde<br />

nach einem Tag gezogen, irgendwie ging<br />

es. Nur mit der Gewichtszunahme klappte<br />

es einfach nicht.<br />

So viel Ungewissheit<br />

Die Zeit der Ungewissheit und vor allem<br />

der Unwissenheit war für mich sehr schwer<br />

zu ertragen. Meine Familie kam mich und<br />

Jolina täglich besuchen. Diese Besuche waren<br />

jeden Tag das Lichtlein in der momentanen<br />

Dunkelheit. Mein Mann half mir sehr<br />

dabei, Jolina anzunehmen und genauso zu<br />

lieben wie die ersten beiden Kinder!<br />

Nach ungefähr einer Woche lag die Chromosomenanalyse<br />

vor, diese bestätigte den<br />

Verdacht auf freie Trisomie 21. Das war<br />

wieder ein Schock, obwohl wir es eigentlich<br />

schon wussten. Wir saßen oft neben dem<br />

Kinderbettchen auf der Intensivstation und<br />

gingen die typischen Merkmale von <strong>Down</strong>-<br />

<strong>Syndrom</strong> durch. Wir hatten uns im Internet<br />

informiert. Die kleinen Ohren, ja die hatte<br />

sie und die waren supersüß. Die Vierfi ngerfurche,<br />

auch da, aber das kann sich ja noch<br />

entwickeln. Die fl ache Nase, auch das war<br />

off ensichtlich! Aber sie war ein hübsches<br />

Baby! Jetzt aber hatten wir es schwarz auf<br />

weiß, wir hatten ein Kind mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong>.<br />

Und zu allem Überfl uss kamen noch<br />

zwei Herzfehler hinzu, die man mit vier<br />

Monaten voraussichtlich operieren musste.<br />

Das reichte mir. Fünf Tage nach der Geburt<br />

verließ ich das Krankenhaus und fuhr<br />

jeden Tag mit meinem Mann zusammen in<br />

die Klinik, um unsere Kleine zu versorgen.<br />

Mein schlechtes Gewissen den anderen beiden<br />

gegenüber hatte mich nach dem ersten<br />

Schock wieder auf den Boden zurückgeholt<br />

und mich daran erinnert, dass das Leben<br />

nicht stehen bleibt, du hast jetzt drei Kinder,<br />

für die du stark sein musst, für das eine<br />

vielleicht mehr, aber es ist nicht fair, sich in<br />

einem Loch zu verkriechen und zu warten,<br />

bis alles vorbei ist.<br />

Mein Mann und meine ganze Familie<br />

waren mir in dieser Zeit eine riesengroße<br />

Hilfe. Wenn mein Mann und ich Jolina besuchten,<br />

war immer eine Oma bereit, die<br />

Großen zu nehmen, weil sie nicht mit auf<br />

die Intensivstation durft en. Nach vier Wochen<br />

bestand ich darauf, Jolina mit nach<br />

Hause zu nehmen. Die Ärztin war alles andere<br />

als begeistert, aber ich wollte sie endlich<br />

zu Hause willkommen heißen. Füttern<br />

und Wiegen, das klappt zu Hause meist<br />

besser als im Krankenhaus. Der Po war so<br />

weit verheilt, ich musste den Anus täglich<br />

mit einem Metallstab dehnen. Das war eine<br />

wirkliche Quälerei und ich bin froh, dass ich<br />

damit relativ schnell aufh ören konnte. Man<br />

sagte mir, sobald sie festen Stuhl hat, könnte<br />

ich mit dem Dehnen aufh ören. Dann hatte<br />

Jolina festen Stuhl. So fest, dass sie ihn ohne<br />

Hilfe nicht herausgebracht hätte. Es war eine<br />

Gratwanderung mit der Ernährung, damit<br />

der Stuhl genau die richtige Konsistenz hatte.<br />

War es zu weich, wurde sie sofort wund,<br />

dann war ihr empfi ndlicher Po blutig und<br />

off en; wenn er zu hart war, bekam sie es nur<br />

unter heft igen Schmerzen heraus.<br />

Sie nahm nicht zu. Ich hatte fast keine<br />

Nerven mehr. Die Kinderärztin sagte, ich<br />

soll sie alle vier Stunden füttern und auch<br />

nachts wecken. Aber das nützte nichts, sie<br />

nahm eher ab als zu und ich machte mich<br />

� � ERFAHRUNGSBERICHT<br />

immer verrückter. Nach zwei Wochen, als<br />

ich wieder vom Kinderarzt nach Hause fuhr,<br />

dachte ich mir: Julia, was machst du eigentlich?<br />

Das wäre das erste Kind, das freiwillig<br />

verhungert. Mach dir keinen Stress, die<br />

holt sich schon, was sie braucht. Die Kinderärztin<br />

wollte, dass ich mich nach drei<br />

Tagen wieder melde. Wenn sie dann nicht<br />

zugenommen hätte, würde sie uns wieder<br />

in die Klinik schicken. Alles, nur das nicht.<br />

Ich ließ Jolina schlafen, so viel sie wollte.<br />

Weckte sie nicht mehr alle vier Stunden und<br />

auch nachts schlief sie durch. Sie trank auf<br />

einmal zwei kleine Flaschen nacheinander<br />

und das alle sechs Stunden! Nach zwei Tagen<br />

hatte sie 150 Gramm zugenommen und<br />

ich war happy. Es ist zwar super, dass man<br />

Ratschläge von den Ärzten bekommt, aber<br />

manchmal sollte man einfach seinen Menschenverstand<br />

einschalten. Ich glaube, Jolina<br />

war total übermüdet, weil man sie immer<br />

aus dem Schlaf gerissen hat, und hatte<br />

dadurch nur wenig Lust zu trinken. Durch<br />

ihren eigenen Rhythmus kam auch der<br />

Hunger und sie nahm fast automatisch an<br />

Gewicht zu. Sie entwickelte sich gut und<br />

war recht fi del.<br />

Laufen – eine gute Ablenkung<br />

vom Familienstress<br />

Als es meine Narbe vom Kaiserschnitt erlaubte,<br />

fi ng ich an, jeden Tag zu laufen.<br />

Ich brauchte etwas Ablenkung und etwas<br />

Leben mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>58</strong> I <strong>Mai</strong> 2008 61

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!