01.02.2013 Aufrufe

Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

� � SPRACHE<br />

wenn sie im Regelkindergarten unter Kindern<br />

war. Gerne wollte sie auch in langen<br />

Sätzen sprechen. Da dies trotz ihres großen<br />

Wortschatzes noch nicht so recht gelingen<br />

wollte, begann sie, Füllwörter zu benutzen<br />

und Satzmelodien nachzuahmen. Das<br />

klang dann in etwa so: „Ruth ... sicke, sicke,<br />

sicke ... sicke, sicke ... male ... rot ... sicke,<br />

sicke Hund.“ Auch begann sie zu stottern.<br />

Zu diesem Zeitpunkt entschieden wir uns,<br />

Ruth zu einer Logopädin zu schicken.<br />

Diese arbeitete sehr individuell mit ihr<br />

und half ihr vor allem, grammatisch richtiger<br />

zu sprechen und Pausen im Redefl uss<br />

zu machen.<br />

Leider mussten wir diese Th erapie mit<br />

Schulbeginn abbrechen, da die Fahrt in die<br />

Schule und zurück schon fast zwei Stunden<br />

täglich in Anspruch nahm.<br />

Ich will lesen!<br />

Ein Jahr vor Schuleintritt – wir hatten unsere<br />

Tochter gerade auch in Anbetracht<br />

der weiten Fahrerei vom Schulbesuch zurückstellen<br />

lassen – saß Ruth am Küchentisch,<br />

stampft e mit dem Fuß auf und sagte,<br />

sie wolle jetzt lesen lernen wie ihre große<br />

Schwester Th eresa.<br />

50 Leben mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>58</strong> I <strong>Mai</strong> 2008<br />

Mit einer großen bunten Methode brachte<br />

ich ihr also die Blockbuchstaben anhand<br />

der Namen all ihrer lieben Verwandten und<br />

Freunde bei. Ein kleines Lesebuch entstand:<br />

Links ein Foto des/der Betreff enden, rechts<br />

der Name in Blockschrift . Sie hatte viel Spaß<br />

daran. Nach vier Monaten las Ruth etwa 25<br />

Ganzwörter (ohne Bild) und erkannte alle<br />

Blockbuchstaben.<br />

Im Kindergarten wurde diese Initiative<br />

sehr beargwöhnt, ich wurde einbestellt und<br />

mir wurde bedeutet, dass das frühe Lesenlernen<br />

meiner Tochter schade. Die Begründung<br />

war, dass sie in ihrer Malentwicklung<br />

noch nicht auf dem Niveau eines Vorschulkindes<br />

sei. Sie könne noch kein Haus malen.<br />

Dass Ruth schon sechs Jahre alt war<br />

und die Initiative dazu von ihr selbst ausgegangen<br />

war, schien nicht zu beeindrucken.<br />

Also brachte ich Ruth bei, wie man ein<br />

Haus malt. Bald erzählte man mir, Ruth<br />

habe einen großen Entwicklungsschritt getan,<br />

sie könne jetzt ein Haus malen.<br />

Dennoch war ich durch diese Vorwürfe<br />

recht verunsichert und verlangsamte unsere<br />

literarischen Bemühungen. Stattdessen<br />

übten wir brav, nach Linien auszuschneiden,<br />

was wirklich weitaus beschwerlicher<br />

war, als lesen zu lernen.<br />

Mit dem Eintritt in die Außenklasse einer<br />

besonders netten Grundschule 20 km<br />

von unserem Wohnort entfernt (näher gab<br />

es keinen solchen Schulversuch!) machte<br />

Ruth in ihrer sprachlichen Entwicklung einen<br />

Sprung nach vorne. Ende des ersten<br />

Schuljahres begann sie zu synthetisieren,<br />

im Laufe des zweiten Schuljahres las sie<br />

sich frei.<br />

Heute geht sie nicht mehr ohne Buch aus<br />

dem Haus. Besucht man mit ihr eine Buchhandlung,<br />

so kann man sicher sein, selbst<br />

genug Zeit zum Stöbern zu haben, man<br />

kriegt sie fast so schwer wieder heraus wie<br />

im Sommer aus dem Schwimmbad.<br />

Märchen- und Geschichtenwerkstatt<br />

Als Ruth fast acht Jahre alt war, gründete<br />

ich bei uns zu Hause eine Märchen- und<br />

Geschichtenwerkstatt. Im ersten Jahr kamen<br />

Kinder aus ihrem früheren Kindergarten,<br />

später kamen auch Migrantenkinder<br />

aus meinen Sprachförderkursen dazu. Die<br />

„Schöpfungsgeschichte“ stand ein halbes<br />

Jahr lang auf dem Programm – so viel kann<br />

man zu diesem Th ema basteln, spielen, singen<br />

und malen! Später wandten wir uns eher<br />

dem einfachen Märchen zu – „Die drei Bären“,<br />

„Die kleine Enkelin“, „Rotkäppchen“,<br />

„Frau Holle“, „Aljonuschka“, „Der Wolf und<br />

die sieben Geißlein“, „Schwan kleb an!“. Gemeinsam<br />

mit den anderen Kindern begann<br />

Ruth, hier frei zu spielen und zu Bildern folgerichtig<br />

zu erzählen.<br />

Im Januar erzählte ich in der Stadtbibliothek<br />

das Grimm-Märchen vom „Goldenen<br />

Vogel“ vor einer Gruppe von Kindern. Ruth<br />

begleitete mich mit zwei Liedern auf ihrer<br />

Veeh-Harfe. Wenige Tage darauf trafen<br />

wir bei einem Spaziergang eine Nachbarin.<br />

Ruth rief: „Hallo! Es war einmal ein König,<br />

der hatte einen großen Lustgarten hinter<br />

seinem Schloss. In dem Garten stand ein<br />

wunderbarer Apfelbaum, der trug Äpfel aus<br />

purem Gold. Als die Äpfel aber reif waren<br />

...“ Die Nachbarin hatte leider keine Zeit,<br />

sich das ganze Märchen anzuhören. Auch<br />

ich habe nicht nachgeforscht, wie weit meine<br />

Tochter mit dem Erzählen noch gekommen<br />

wäre.<br />

Der niveauvolle Unterricht in der Schule,<br />

Kindergruppen wie Singschar und Jungschar,<br />

der frühe Kindergottesdienst nach<br />

der Kett-Methode, das Erzählen und Spielen<br />

von biblischen Geschichten zu Hause,<br />

insbesondere in der Zeit der Erstkommunionsvorbereitung,<br />

die kurze abendliche Tagesrückschau,<br />

die die Tageseindrücke vor<br />

dem Schlafengehen noch einmal ordnen<br />

soll, all dies sind auch Beiträge zu sprachlichem<br />

Verständnis und Ausdrucksfähigkeit.<br />

Nicht vergessen darf man natürlich<br />

„Heidi“, „Michel“, „Pippi Langstrumpf “<br />

und andere Kinderfreunde in Film und<br />

Hörspiel!�<br />

Barbara Schilling<br />

Märchenerzählerin

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!