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Nr. 58 I Mai - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

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„Moritz“ wird er alt werden.<br />

Steht am Ende sogar in seiner Todesanzeige<br />

„Moritz“?<br />

Stigmatisierung durch<br />

Sprache<br />

Wenn der Mensch mit einer geistigen Behinderung<br />

erwachsen wird, bemerkt die<br />

Umwelt nicht nur an seinem Verhalten<br />

und an seinem anderen Äußeren, dass er/<br />

sie anders ist. Die allgemein gültigen Höflichkeitsregeln<br />

scheinen für ihn/sie nicht zu<br />

gelten. Selbst kleine Kinder merken schnell<br />

– auch an diesen Umgangsformen –, wann<br />

jemand nicht der Norm entspricht.<br />

„Moritz“ selbst kennt es nicht anders.<br />

Er fällt auf: Der Busfahrer, der Bäcker, der<br />

Metzger und der Brieft räger, alle werden<br />

von ihm geduzt und alle erkennen auch daran<br />

sofort, dass es sich nicht nur um einen<br />

Menschen handelt, der „anders“ ist, sondern<br />

der ganz off enbar so eine einfache Sache<br />

nicht lernen kann.<br />

Die Schule für geistig<br />

Behinderte ist auch anders ...<br />

Während in der sonstigen Schulwelt ab 16<br />

Jahren die Schülerinnen und Schüler von<br />

den Lehrerinnen und Lehrern gesiezt werden,<br />

ist es in den Schulen für geistig Behinderte<br />

seit mehr als 30 Jahren verbreitete<br />

Praxis (Ausnahmen bestätigen die Regel),<br />

die Schüler/-innen bis zu ihrer Entlassung<br />

zu duzen.<br />

... Warum?<br />

Auch der Paradigmenwechsel der Normalisierung<br />

und des Empowerment (weg vom<br />

Beschützen und Umsorgen hin zu einem<br />

selbstständigen Leben in sozialer Integration)<br />

haben in der Behindertenarbeit bis jetzt<br />

nicht dazu geführt, dass die Regeln der allgemeinen<br />

Höfl ichkeit überall auf die jungen<br />

Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung<br />

angewandt werden.<br />

Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig<br />

und es lohnt sich, diese genauer anzuschauen:<br />

1. Kindliches Verhalten wird geduzt<br />

Menschen, die langsamer oder vollkommen<br />

anders denken und sich artikulieren<br />

(kognitive Einschränkungen) und durch<br />

ihr oft kindlich wirkendes Verhalten (Entwicklungsverzögerungen)<br />

scheinbar nie erwachsen<br />

werden und mehr den Kindern<br />

zuzuordnen sind, sind dem „Du“ näher als<br />

dem „Sie“.<br />

In unserem Kulturkreis scheinen wir geradezu<br />

darauf konditioniert zu sein, dass<br />

alle, die sich scheinbar kindlich artikulieren,<br />

geduzt werden.<br />

Kennen Sie nicht auch Diskussionen zu<br />

diesem Th ema in Pfl egeheimen, in denen es<br />

oft auch unrefl ektierte Praxis ist, demente<br />

Bewohnerinnen und Bewohner zu duzen?<br />

Wir postulieren Teilhabe und „ernst<br />

nehmen“ der Menschen mit einer geistigen<br />

Behinderung und duzen munter weiter ...<br />

2. Beziehungsarbeit erfordert Nähe<br />

Behindertenarbeit ist Beziehungsarbeit. Erst<br />

das Einbringen der eigenen Persönlichkeit<br />

in den Arbeitsalltag lässt sonderpädagogisches<br />

Arbeiten möglich werden. Die/der<br />

Pädagogin/Pädagoge muss viel „Herzblut“<br />

investieren, um emotional an die Schülerinnen<br />

und Schüler mit Behinderung überhaupt<br />

heranzukommen.<br />

Hier spielt die Sprache eine große Rolle<br />

und wir müssen uns die Frage nach der<br />

distanzierenden Wirkung eines „Sie“ gefallen<br />

lassen:<br />

Entfernt also das Siezen nicht Menschen<br />

voneinander, die oft auf ganz einfachen basalen<br />

Ebenen miteinander interagieren?<br />

Beziehen wir aber die Regeln der allgemeinen<br />

Höfl ichkeit wieder mit ein, und gehen<br />

von Gegenseitigkeit und Gleichberechtigung<br />

in der Beziehung aus, dann müssten<br />

sich beide Partner beim Vornamen nennen<br />

und duzen. Das ist aber nicht der Fall. Die<br />

Lehrerin bzw. der Lehrer – die nicht behinderte<br />

Respektsperson – stellt sich den<br />

behinderten Schülerinnen und Schülern<br />

schon mit „Ich bin die Frau <strong>Mai</strong>er“ vor. Das<br />

ist eingespielt und die Behinderten fi nden<br />

es dann auch vollkommen normal, „Du,<br />

Frau <strong>Mai</strong>er“ zu sagen.<br />

3. Ein Missverständnis aus Gewohnheit<br />

Alte Muster in unseren Köpfen bestimmen<br />

unseren Arbeitsalltag und den Umgang mit<br />

geistig behinderten Menschen.<br />

Vieles in der Welt der Sonderpädagogik<br />

ist lange eingespielt. Gewohnheiten werden<br />

nicht ständig hinterfragt und refl ektiert.<br />

4. Lernchancen verpasst?<br />

Wenn die Reden von sozialer Integration<br />

oder gar Inklusion über Sonntagsreden hinaus<br />

Bestand haben sollen, sollten die jungen<br />

Erwachsenen dann nicht die Möglichkeit<br />

haben, gesellschaft lich gesetzte Regeln<br />

der Höfl ichkeit zu erfahren, zu erleben und<br />

– vor allem in der Schule – zu erlernen?<br />

Sollen die Grenzen des sprachlichen<br />

Umgangs wirklich an der Intelligenz und an<br />

� � NACHDENKLICHES<br />

der Entwicklung der jeweiligen Person festgemacht<br />

werden?<br />

Bestimmt ist es viel verlangt, Schülerinnen<br />

und Schülern den gebotenen Respekt<br />

auch in dieser sprachlichen Form zu<br />

erweisen, die ihrerseits Mühe haben, Lehrerinnen<br />

und Lehrern Respekt entgegenzu-<br />

bringen.<br />

Aber gerade hier lägen große Lernchancen<br />

für Schülerinnen bzw. Schüler mit Behinderung<br />

und Chancen für uns, unsere eigene<br />

Ernsthaft igkeit zu beweisen!<br />

„Du“-Diskussion dringend<br />

notwendig<br />

Es ist höchste Zeit, dass<br />

��� Lehrkräft e ihre gewohnte Praxis der<br />

Anrede refl ektieren<br />

��� Auseinandersetzungen in Kollegien begonnen<br />

werden<br />

��� Referendarinnen und Referendare in<br />

den Ausbildungsseminaren die Bildung<br />

von erwachsenen Schülerinnen und<br />

Schülern refl ektieren<br />

��� auch in der Berufswelt (Wfb M) die täglich<br />

benutzten Umgangsformen hinterfragt<br />

werden.<br />

Denn eines ist sicher:<br />

Wir müssen im Mikrokosmos der „Behindertenszene“<br />

mit dem Umdenken beginnen,<br />

sonst wird in der Welt der Nichtbehinderten<br />

für immer weiterhin gelten:<br />

„Deppen werden geduzt.“�<br />

Thomas Schrecker<br />

Fachlehrer für geistig Behinderte<br />

Leben mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>58</strong> I <strong>Mai</strong> 2008 59

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