?Initiative Berliner Sozialforum?. - Forschungsjournal Soziale ...
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10<br />
voll. Gleichwohl fiel in den programmatischen<br />
Diskussionen, die die Entwicklung der Agenda–Politik<br />
begleiteten, die plötzliche Neigung<br />
auf, die Instrumente der Agenda-Politik dadurch<br />
zu rechtfertigen, dass eine bis dahin unterschätzte,<br />
‚eigentliche‘ Verpflichtung der Sozialdemokratie<br />
gegenüber dem Grundwert der Freiheit<br />
betont wurde. Verschiedene Redner etwa auf<br />
dem Sonderparteitag vom 2. Juni 2003 in Berlin,<br />
der über die Agenda 2010 abzustimmen hatte,<br />
äußerten sich in dieser Hinsicht. ‚Liberty<br />
first‘, so die dort propagierte These, sei die wichtigste<br />
philosophische Maxime der SPD. Die<br />
damit verbundene Relativierung der Gerechtigkeit<br />
als Leitwert der Sozialdemokratie erscheint<br />
allerdings fragwürdig. Zweifellos hat der Wert<br />
der Freiheit über lange Jahrzehnte eine beherrschende<br />
Rolle im politischen Selbstverständnis<br />
der deutschen Sozialdemokratie eingenommen,<br />
aber dies war doch im Wesentlichen den in<br />
Deutschland gegebenen vor- oder explizit antidemokratischen<br />
Zuständen des politischen Systems<br />
geschuldet, die ein demokratisches politisches<br />
Leben abdämpften und verhinderten. In<br />
diesem Sinne erklärt sich auch der innige Freiheitsbezug<br />
der deutschen Sozialdemokraten, war<br />
doch die SPD sowohl im Kaiserreich als auch<br />
unter dem Nationalsozialismus – und ebenfalls<br />
in der DDR – stets ein erstes Opfer der Unfreiheit.<br />
Ihre großen Vorsitzenden August Bebel,<br />
Kurt Schuhmacher und Willy Brandt haben in<br />
diesem Sinne ihre politische Statur und ihr Charisma<br />
ganz wesentlich im Kampf für die Freiheit<br />
und gegen Unterdrückung und Diktatur<br />
entwickelt. Anders verhält sich jedoch die Zuordnung<br />
der SPD zu den Grundwerten unter<br />
den systemischen Bedingungen und konstitutionellen<br />
Freiheiten der liberalen Demokratie,<br />
wenn man so will: im demokratischen Alltag.<br />
Hier hat sich die Sozialdemokratie, ohne deshalb<br />
jemals den Wert der Freiheit gering zu schätzen,<br />
stets in erster Linie als Hüterin und Förderin<br />
der sozialen Gerechtigkeit empfunden und<br />
auf diesem Wege die verfassungsmäßigen Frei-<br />
Gerd Mielke<br />
heiten mit Leben, mit kultureller und sozialer<br />
Substanz gefüllt. Man sollte bei der sich nun<br />
entfaltenden Programmdiskussion die höchst<br />
unterschiedlichen politischen Aggregatzustände,<br />
in denen sich die Geschichte der deutschen<br />
Sozialdemokratie vollzogen hat, angemessen<br />
berücksichtigen und die Traditionslinie einer<br />
vorrangig auf Gerechtigkeit ausgerichteten Partei<br />
in einer freien Gesellschaft nicht ohne Not<br />
oder aus taktischen Erwägungen verlassen.<br />
Andernfalls läuft die SPD Gefahr, im deutschen<br />
Parteiensystem eine bedrohliche Repräsentationslücke<br />
zu erzeugen, mit allen denkbaren Folgen<br />
der politischen Exklusion und Marginalisierung<br />
beträchtlicher Wählergruppen. Die SPD<br />
sollte also unter keinen Umständen von der historisch<br />
gewachsenen „Überzeugung des Alltagsverstands“<br />
abweichen, „dass die Gerechtigkeit<br />
die erste Tugend der gesellschaftlichen<br />
Institutionen sei“ (Rawls 1975: 636).<br />
Die nähere Bestimmung des für die Sozialdemokratie<br />
angemessenen Gerechtigkeitsverständnisses,<br />
das zweite hier zu behandelnde<br />
Problemfeld, muss von der Konkurrenz verschiedener<br />
Gerechtigkeitsvorstellungen im öffentlichen<br />
Diskurs ausgehen. Neben den klassischen<br />
Begriffen der Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit<br />
haben sich im Gerechtigkeitsdiskurs<br />
der letzten Jahrzehnte eine Reihe neuer<br />
Gerechtigkeitskonzepte etabliert, auch wenn diese<br />
bei genauerem Hinsehen durchaus auf ältere<br />
staatsphilosophische Traditionen zurückgehen.<br />
So sind die Begriffe der Chancengerechtigkeit,<br />
Teilhabegerechtigkeit und Generationengerechtigkeit<br />
vor allem als kritische Differenzierungen<br />
und Distanzierungen im Blick die Verteilungsgerechtigkeit<br />
entstanden. Sie hat bislang<br />
in der Form eines ‚linearen Egalitarismus‘ das<br />
programmatische Selbstverständnis der SPD<br />
beherrscht und liegt auch dem ‚<strong>Berliner</strong> Programm‘<br />
zugrunde. Die Verteilungsgerechtigkeit<br />
erscheint in den Augen der Verfechter dieser<br />
neueren Gerechtigkeitsvorstellungen als ein zu<br />
statisches, die Verantwortung des Einzelnen,