Wirtschaftswoche Ausgabe vom 13.10.2014 (Vorschau)
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Management&Erfolg<br />
Inselhopping in der<br />
Werkshalle<br />
INDUSTRIE 4.0 | Neue Jobprofile, mehr Verantwortung, flachere Hierarchien: Wie die<br />
Digitalisierung nicht nur die Automatisierung der Produktion beschleunigt,<br />
sondern auch die Arbeitsorganisation revolutioniert. Was Mitarbeiter in den Werkshallen<br />
künftig können müssen – und wer wem etwas zu sagen hat.<br />
Immer wenn morgens um sieben zu<br />
Schichtbeginn Not am Mann ist, legt<br />
Werksmeister Giuseppe Dolce selbst<br />
Hand an. Streift den grauen Arbeiterkittel<br />
über sein kariertes Hemd,<br />
schnappt sich ein Smartphone <strong>vom</strong> Organisationsbrett<br />
und geht in die Werkshalle zu<br />
einem großen Bildschirm, der dort an der<br />
Wand hängt. Mit seinem Telefon scannt<br />
Dolce einen auf der Mattscheibe eingespielten<br />
QR-Code ab – nun hat er alle digitalen<br />
Daten für Bauplan, Größe und Stückzahl<br />
der Zahnräder geladen, die er gleich<br />
produzieren wird. Daten, die er auch auf<br />
seinem Bildschirm über seiner Fräsmaschine<br />
parat hat. Fehlt Material, benachrichtigt<br />
er mit einem kurzen Wischen über sein<br />
Diensttelefon den Transportwagen. Der<br />
schlägt ihm die beste Route ins Materiallager<br />
vor, aus dem Dolce das fehlende Material<br />
besorgt. Zurück in der Werkshalle setzt er<br />
mit leichtem Fingertippen schließlich die<br />
Maschine in Bewegung, die mit dem Fräsen<br />
der gewünschten Zahnräder beginnt –<br />
wohlabgeschirmt hinter Plexiglas.<br />
„Faszinierend, wie Produktion heutzutage<br />
läuft“, sagt Dolce. Seit Januar 2014 baut<br />
der 53-Jährige ein Team von 20 Facharbeitern<br />
auf, in dem jeder mehrere Arbeitsplätze<br />
beherrschen soll. Ihre Aufgabe: das Metall<br />
für die Produktion von Zahnrädern und<br />
Getrieben in der digital gesteuerten Werkshalle<br />
des mittelständischen Maschinenbauers<br />
Wittenstein in Fellbach bei Stuttgart<br />
in Form zu bringen. Natürlich: Die Zähne<br />
der silbernen oder goldenen Räder werden<br />
noch immer gefräst und geschliffen. Aber<br />
das leise Rauschen, wenn Wasser und Öl<br />
die Maschinen automatisch temperieren<br />
und schmieren, ist wohl die letzte Reminiszenz<br />
an die traditionelle industrielle Fertigung.<br />
Statt sich beim eigenhändigen Fräsen<br />
und Drehen den Rücken zu ruinieren<br />
oder die Finger schmutzig zu machen,<br />
kontrollieren die Facharbeiter heute den<br />
Gang der Maschinen durch Tippen und<br />
Wischen über interaktive Bildschirme.<br />
Statt auf Weisungen zu warten, entscheiden<br />
sie selbst, in welcher Reihenfolge sie<br />
ihre Aufträge abarbeiten – der Bildschirm<br />
zeigt ihnen alle Optionen. Türmen sich bei<br />
einem Teammitglied die Zahnrad-Aufträge<br />
im Rechner, kann ein Kollege sich in die<br />
Aufträge einklinken und die Maschine mit<br />
im Auge behalten.<br />
„Wer 15 Jahre dieselben Handgriffe gemacht<br />
hat, mag zuerst nicht glauben, dass<br />
es für jeden leichter wird, wenn alle mehr<br />
können“, sagt der gelernte Industriemechaniker<br />
und Elektrotechniker Dolce, der<br />
Lernen, denken, reden<br />
Welche Kompetenzen die vernetzte Fabrik<br />
von Produktionsmitarbeitern verlangt<br />
(in Prozent)<br />
91<br />
81<br />
79<br />
79<br />
78<br />
75<br />
74<br />
71<br />
64<br />
63<br />
Lebenslanges Lernen<br />
Interdisziplinäres Denken<br />
Aktive Problemlösung<br />
Höhere IT-Kompetenz<br />
Austausch mit vernetzten Systemen<br />
Kenntnis des Gesamtprozesses<br />
Beherrschung komplexer Arbeitsinhalte<br />
Steuerung der Kommunikation<br />
Mitwirken am Innovationsprozess<br />
Koordination von Arbeitsabläufen<br />
Quelle: Fraunhofer IAO/Ingenics, Befragung unter 518<br />
Produktionsverantwortlichen deutscher Unternehmen;<br />
Mehrfachnennung möglich<br />
vor seinem Wechsel zu Wittenstein 2013<br />
selbst 30 Jahre lang im Schichtsystem an<br />
Spritzpumpen geschafft hatte, bevor er begann,<br />
dank Doppelqualifikation, Meisterschule<br />
und seiner kommunikativen Art bei<br />
Wittenstein die Einführung der digitalen<br />
Fertigung zu begleiten. „Jetzt sieht jeder,<br />
dass die Belastung gerechter verteilt wird.“<br />
RADIKALES UMDENKEN<br />
Pilotprojekte wie in Fellbach weisen den<br />
Weg in die digitale Produktion, die derzeit<br />
unter dem Schlagwort Industrie 4.0 diskutiert<br />
wird. Den Schlüssel nicht nur für die<br />
bestmöglichen technologischen Lösungen,<br />
sondern auch für die dafür nötige Qualifikation<br />
und Organisation ihrer Mitarbeiter<br />
wird in der nächsten Dekade für deutsche<br />
Unternehmen existenzieller Erfolgsfaktor.<br />
Allein bei Bosch laufen derzeit 50 Projekte,<br />
mit denen das Unternehmen untersucht,<br />
wie Internet und Maschinen zusammenwachsen<br />
und für mehr Produktivität sorgen.<br />
Voraussetzung für diesen neuerlichen<br />
Effektivitäts- und Effizienzschub: radikales<br />
Umdenken, am Schreibtisch wie in der<br />
Werkshalle. Die Folge: Abteilungs- und<br />
Fachgrenzen werden eingerissen, Jobprofile<br />
ändern sich, gewohnte Arbeitsabläufe<br />
werden auf den Kopf gestellt.<br />
„Die Digitalisierung reduziert die Monotonie<br />
vieler Arbeitsabläufe und schafft Zeitsouveränität“,<br />
sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann.<br />
„Auf der anderen Seite kommt es<br />
aber zu einer enormen Beschleunigung<br />
des technologischen Wandels. Dadurch<br />
sinkt die Halbwertzeit von Qualifikation<br />
dramatisch. Wer jetzt seine Ausbildung<br />
oder seinen Hochschulabschluss macht,<br />
muss sich darauf einstellen, dass in zehn<br />
FOTO: REINER PFISTERER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
94 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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