13.10.2014 Aufrufe

Wirtschaftswoche Ausgabe vom 13.10.2014 (Vorschau)

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Management&Erfolg<br />

Inselhopping in der<br />

Werkshalle<br />

INDUSTRIE 4.0 | Neue Jobprofile, mehr Verantwortung, flachere Hierarchien: Wie die<br />

Digitalisierung nicht nur die Automatisierung der Produktion beschleunigt,<br />

sondern auch die Arbeitsorganisation revolutioniert. Was Mitarbeiter in den Werkshallen<br />

künftig können müssen – und wer wem etwas zu sagen hat.<br />

Immer wenn morgens um sieben zu<br />

Schichtbeginn Not am Mann ist, legt<br />

Werksmeister Giuseppe Dolce selbst<br />

Hand an. Streift den grauen Arbeiterkittel<br />

über sein kariertes Hemd,<br />

schnappt sich ein Smartphone <strong>vom</strong> Organisationsbrett<br />

und geht in die Werkshalle zu<br />

einem großen Bildschirm, der dort an der<br />

Wand hängt. Mit seinem Telefon scannt<br />

Dolce einen auf der Mattscheibe eingespielten<br />

QR-Code ab – nun hat er alle digitalen<br />

Daten für Bauplan, Größe und Stückzahl<br />

der Zahnräder geladen, die er gleich<br />

produzieren wird. Daten, die er auch auf<br />

seinem Bildschirm über seiner Fräsmaschine<br />

parat hat. Fehlt Material, benachrichtigt<br />

er mit einem kurzen Wischen über sein<br />

Diensttelefon den Transportwagen. Der<br />

schlägt ihm die beste Route ins Materiallager<br />

vor, aus dem Dolce das fehlende Material<br />

besorgt. Zurück in der Werkshalle setzt er<br />

mit leichtem Fingertippen schließlich die<br />

Maschine in Bewegung, die mit dem Fräsen<br />

der gewünschten Zahnräder beginnt –<br />

wohlabgeschirmt hinter Plexiglas.<br />

„Faszinierend, wie Produktion heutzutage<br />

läuft“, sagt Dolce. Seit Januar 2014 baut<br />

der 53-Jährige ein Team von 20 Facharbeitern<br />

auf, in dem jeder mehrere Arbeitsplätze<br />

beherrschen soll. Ihre Aufgabe: das Metall<br />

für die Produktion von Zahnrädern und<br />

Getrieben in der digital gesteuerten Werkshalle<br />

des mittelständischen Maschinenbauers<br />

Wittenstein in Fellbach bei Stuttgart<br />

in Form zu bringen. Natürlich: Die Zähne<br />

der silbernen oder goldenen Räder werden<br />

noch immer gefräst und geschliffen. Aber<br />

das leise Rauschen, wenn Wasser und Öl<br />

die Maschinen automatisch temperieren<br />

und schmieren, ist wohl die letzte Reminiszenz<br />

an die traditionelle industrielle Fertigung.<br />

Statt sich beim eigenhändigen Fräsen<br />

und Drehen den Rücken zu ruinieren<br />

oder die Finger schmutzig zu machen,<br />

kontrollieren die Facharbeiter heute den<br />

Gang der Maschinen durch Tippen und<br />

Wischen über interaktive Bildschirme.<br />

Statt auf Weisungen zu warten, entscheiden<br />

sie selbst, in welcher Reihenfolge sie<br />

ihre Aufträge abarbeiten – der Bildschirm<br />

zeigt ihnen alle Optionen. Türmen sich bei<br />

einem Teammitglied die Zahnrad-Aufträge<br />

im Rechner, kann ein Kollege sich in die<br />

Aufträge einklinken und die Maschine mit<br />

im Auge behalten.<br />

„Wer 15 Jahre dieselben Handgriffe gemacht<br />

hat, mag zuerst nicht glauben, dass<br />

es für jeden leichter wird, wenn alle mehr<br />

können“, sagt der gelernte Industriemechaniker<br />

und Elektrotechniker Dolce, der<br />

Lernen, denken, reden<br />

Welche Kompetenzen die vernetzte Fabrik<br />

von Produktionsmitarbeitern verlangt<br />

(in Prozent)<br />

91<br />

81<br />

79<br />

79<br />

78<br />

75<br />

74<br />

71<br />

64<br />

63<br />

Lebenslanges Lernen<br />

Interdisziplinäres Denken<br />

Aktive Problemlösung<br />

Höhere IT-Kompetenz<br />

Austausch mit vernetzten Systemen<br />

Kenntnis des Gesamtprozesses<br />

Beherrschung komplexer Arbeitsinhalte<br />

Steuerung der Kommunikation<br />

Mitwirken am Innovationsprozess<br />

Koordination von Arbeitsabläufen<br />

Quelle: Fraunhofer IAO/Ingenics, Befragung unter 518<br />

Produktionsverantwortlichen deutscher Unternehmen;<br />

Mehrfachnennung möglich<br />

vor seinem Wechsel zu Wittenstein 2013<br />

selbst 30 Jahre lang im Schichtsystem an<br />

Spritzpumpen geschafft hatte, bevor er begann,<br />

dank Doppelqualifikation, Meisterschule<br />

und seiner kommunikativen Art bei<br />

Wittenstein die Einführung der digitalen<br />

Fertigung zu begleiten. „Jetzt sieht jeder,<br />

dass die Belastung gerechter verteilt wird.“<br />

RADIKALES UMDENKEN<br />

Pilotprojekte wie in Fellbach weisen den<br />

Weg in die digitale Produktion, die derzeit<br />

unter dem Schlagwort Industrie 4.0 diskutiert<br />

wird. Den Schlüssel nicht nur für die<br />

bestmöglichen technologischen Lösungen,<br />

sondern auch für die dafür nötige Qualifikation<br />

und Organisation ihrer Mitarbeiter<br />

wird in der nächsten Dekade für deutsche<br />

Unternehmen existenzieller Erfolgsfaktor.<br />

Allein bei Bosch laufen derzeit 50 Projekte,<br />

mit denen das Unternehmen untersucht,<br />

wie Internet und Maschinen zusammenwachsen<br />

und für mehr Produktivität sorgen.<br />

Voraussetzung für diesen neuerlichen<br />

Effektivitäts- und Effizienzschub: radikales<br />

Umdenken, am Schreibtisch wie in der<br />

Werkshalle. Die Folge: Abteilungs- und<br />

Fachgrenzen werden eingerissen, Jobprofile<br />

ändern sich, gewohnte Arbeitsabläufe<br />

werden auf den Kopf gestellt.<br />

„Die Digitalisierung reduziert die Monotonie<br />

vieler Arbeitsabläufe und schafft Zeitsouveränität“,<br />

sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann.<br />

„Auf der anderen Seite kommt es<br />

aber zu einer enormen Beschleunigung<br />

des technologischen Wandels. Dadurch<br />

sinkt die Halbwertzeit von Qualifikation<br />

dramatisch. Wer jetzt seine Ausbildung<br />

oder seinen Hochschulabschluss macht,<br />

muss sich darauf einstellen, dass in zehn<br />

FOTO: REINER PFISTERER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

94 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!