ptj_2014-3
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Interview mit Michael Wunder, Mitglied im Deutschen Ethikrat<br />
chotherapeutinnen und Psychotherapeuten,<br />
für die es offenbar naheliegender war<br />
als heute, sich mit psychologischen und<br />
gesellschaftlichen Aspekten zu befassen.<br />
Würden Sie sagen, da hat sich etwas verändert?<br />
MW: Es wäre tatsächlich zu überlegen, ob<br />
man Haltungen und Grundlagen, die in<br />
der Psychotherapeutenausbildung vermittelt<br />
werden, mit ethischen Fragen verknüpft<br />
und sie damit durchaus generalisiert<br />
und wieder mehr gesellschaftliches<br />
Denken in die Psychologie und Psychotherapie<br />
zurückholt. Ich glaube, das Schlimmste,<br />
was unserem Berufsstand derzeit droht,<br />
ist ein Erstarren in einem falsch verstandenen<br />
reinen Professionalismus. Psychotherapie<br />
ist eigentlich ein Moment von Freiheit<br />
und nicht ein Moment von stärkerer<br />
Behandlung.<br />
UW: Sie sind auch in der Ethikkommission<br />
der Psychotherapeutenkammer Hamburg<br />
tätig, die Forschungsanträge prüft. Welche<br />
spezifisch ethischen Fragestellungen gibt<br />
es dort? Könnten Sie vielleicht den einen<br />
oder anderen Aspekt benennen, der dort<br />
für Sie wichtig geworden ist?<br />
MW: Die Arbeit der Kommission steht in<br />
einem Spannungsverhältnis von Forschungsfreiheit,<br />
Probandenschutz und<br />
wissenschaftlichen Standards der Forschung.<br />
Wir haben diese drei Bälle, mit<br />
denen wir in einem Abwägungsprozess<br />
zwischen Risiken, Belastungen, erwarteter<br />
Nützlichkeit für den Probanden, für andere<br />
gleichbetroffene Probanden oder für<br />
die Gesamtheit der Wissenschaften jonglieren.<br />
Und diese Abwägung, das ist eigentlich<br />
die Arbeit der Ethikkommission<br />
und nicht nur, wie es manchmal vielleicht<br />
erscheint, das Bestehen auf Einhaltung<br />
des Datenschutzes oder anderer Dinge,<br />
die natürlich von großer Wichtigkeit sind.<br />
Ein Gesichtspunkt, der mir persönlich sehr<br />
am Herzen liegt und der natürlich auch für<br />
unseren Forschungsbereich immer wieder<br />
eine ganz große Rolle spielt, sind die vulnerablen<br />
Gruppen, weil natürlich sehr<br />
häufig nicht gesunde Menschen im Mittelpunkt<br />
der psychologisch-psychotherapeutischen<br />
Forschung stehen, sondern Gruppen<br />
von traumatisierten, von psychisch<br />
erkrankten, von in irgendeiner Form geschädigten<br />
oder beeinträchtigten Personen.<br />
Da sind natürlich die Schutzgrenzen,<br />
etwa die Gewährleistung einer jederzeitigen<br />
und ohne negative Folgen realisierbaren<br />
Ausstiegsmöglichkeit der Probanden,<br />
nochmal besonders zu beachten. Auch<br />
die Art und Weise, wie aufgeklärt wird, ob<br />
eine verständliche Sprache verwendet<br />
wird, ob ein Nein voll respektiert wird, sind<br />
wichtige Gesichtspunkte.<br />
UW: Gibt es einen Bedarf an psychotherapeutischem<br />
Sachverstand, der auch in anderen<br />
wissenschaftlichen Bereichen als<br />
der Psychotherapie selbst Verwendung<br />
und Nutzen finden könnte?<br />
MW: Ja, es geht ja häufig auch im Bereich<br />
medizinischer Forschung um schwierige<br />
Befragungen oder auch um Followup-Studien,<br />
in denen auch emotionale<br />
Ausnahmezustände der Probanden folgen<br />
und psychologische, stützende Gespräche<br />
notwendig werden können – bis hin<br />
zu psychotherapeutischen Behandlungen.<br />
Und ich glaube auch, wenn ich das mal so<br />
von Kammer zu Kammer sagen darf, dass<br />
es der Ethikkommission der Ärztekammer<br />
gut anstehen würde, in ihre Beratung auch<br />
psychologischen Sachverstand mit einzubeziehen,<br />
um diesen Aspekt der subjektiven<br />
Patientenbelastung vielleicht doch<br />
noch flexibler in mancher Hinsicht zu betrachten<br />
und zu prüfen. Seit der Helsinki-<br />
Deklaration – die auf den Nürnberger Kodex<br />
zurückgeht und ein Instrumentarium<br />
für die ethische Überprüfung von Forschung<br />
im Gesundheitsbereich darstellt,<br />
das seit 1947 beständig weiterentwickelt<br />
wird – gilt der Grundsatz des Nichtschadens.<br />
Und wenn dennoch Schaden nicht<br />
auszuschließen ist, dann muss dieser<br />
Schaden oder die damit zusammenhängende<br />
Belastung gering und voll abschätzbar<br />
sein und darf keine belastenden Langzeitfolgen<br />
haben. Von Patient zu Patient<br />
oder von Proband zu Proband ist dies aber<br />
sehr unterschiedlich zu beurteilen. Gerade<br />
bei somatisch-medizinischen Studien ist<br />
die Abschätzung einer Belastung in psychologischer<br />
Hinsicht etwas, womit man<br />
sehr viel sensibler umgehen muss, als es<br />
meiner Ansicht nach oft der Fall ist.<br />
UW: Insgesamt habe ich den Eindruck, Sie<br />
plädieren sehr für ein größeres Engagement<br />
der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten<br />
in vielen medizinethischen und<br />
sozialethischen Fragestellungen.<br />
MW: Auf jeden Fall. Und es gibt noch eine<br />
Reihe von Bereichen, die wir gar nicht angesprochen<br />
haben – zum Beispiel die medizinische<br />
Versorgung am Lebensende<br />
und die Debatte um die Sterbehilfe, für die<br />
dies ebenfalls zutrifft.<br />
UW: Herr Dr. Wunder, sehr herzlichen<br />
Dank für Ihre aufschlussreichen und interessanten<br />
Überlegungen.<br />
256 Psychotherapeutenjournal 3/<strong>2014</strong>