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Interview mit Michael Wunder, Mitglied im Deutschen Ethikrat<br />

fragt wird, ob es sich tatsächlich um eine<br />

persönliche Entscheidung handelt oder<br />

um einen persönlich gewählten Weg des<br />

geringsten Widerstandes oder der größten<br />

Anpassung. Das ist natürlich eine diffizile<br />

Frage. Wir sehen ja bestimmte Meinungstrends,<br />

z. B. im Bereich der Pränataldiagnostik<br />

(PND), in dem es in den vergangenen<br />

15 Jahren schleichend einen Stimmungsumschwung<br />

zu einem Denken oder<br />

Empfinden gab, ein Recht auf ein gesundes<br />

Kind zu haben, ein Recht auf vollständige<br />

vorgeburtliche Diagnostik – bis hin zu<br />

einem mit der bestehenden Rechtslage<br />

gar nicht zu vereinbarenden, aber als<br />

selbstverständlich angenommenen Anspruch,<br />

eine Schwangerschaft aufgrund<br />

einer Behinderung des Kindes abbrechen<br />

zu können. Wie frei sind Entscheidungen,<br />

die heute unter diesem enormen Trenddruck<br />

entstehen? Ich würde sagen, dass<br />

das Recht auf Nichtwissen ursprünglich<br />

keine juristische, sondern eine philosophische<br />

und auch psychologische Wurzel hatte,<br />

sich diesem Druck entgegenzusetzen.<br />

Aber auch für die, die alles wissen wollen,<br />

gibt es mittlerweile an mehreren Orten<br />

sehr gute Initiativen – beispielsweise, dass<br />

werdende Eltern mit einem pränatalen<br />

Down-Syndrom-Befund mit anderen<br />

Down-Syndrom-betroffenen Eltern zusammenkommen.<br />

Es gibt solche Gruppen bereits.<br />

Das ist ein anderer Umgang mit der<br />

großen Angstreaktion solcher Eltern als das<br />

schnelle medizinische Angebot des<br />

Schwangerschaftsabbruchs. Auch hier<br />

spielt die Psychologie eine große Rolle. Es<br />

geht nicht um die Leugnung der Angst, ein<br />

solches Kind zu bekommen, sondern darum,<br />

in einem Kreis von gleichbetroffenen<br />

Eltern zu lernen, mit dieser Angst umzugehen,<br />

und zu sehen, wie man mit diesem<br />

Kind gut leben kann. Wir können nicht an<br />

einer Gesellschaft interessiert sein, in der<br />

jede Abweichung eines ungeborenen Kindes<br />

dazu führt, dass dessen Geburt verhindert<br />

wird. Wir können natürlich auch nicht<br />

daran interessiert sein, dass Schwangere<br />

aus moralischen Gründen zur Schwangerschaftsaustragung<br />

oder zur Geburt eines<br />

Kindes gezwungen werden. Aber wir können<br />

Instrumente bereitstellen, die helfen,<br />

die Entscheidung, ob abgebrochen wird<br />

oder nicht, wirklich informiert und gut zu<br />

treffen und vor allem auch menschlich.<br />

Das meine ich mit dem bewussten Einbringen<br />

des Wissens unseres Berufsstandes<br />

in die aktuellen medizinethischen Debatten.<br />

UW: Sie sprachen vom „Respekt vor der<br />

Autonomie des anderen“, z. B., wenn sich<br />

Angehörige eines hirntoten Menschen gegen<br />

eine Organentnahme aussprechen.<br />

Umgekehrt sind Menschen von so einer<br />

Organentnahme abhängig. Können wir vor<br />

dem Hintergrund der besonderen psychotherapeutischen<br />

Erfahrungen mit Abhängigkeitsgefühlen<br />

in der Arbeit der ethischen<br />

Kommissionen oder in der gesellschaftlichen<br />

Diskussion darüber Wichtiges<br />

beitragen?<br />

MW: Ich gehöre nicht zu den Menschen,<br />

die die Autonomie an die alleroberste Stelle<br />

setzen und glauben, alles sei veredelt,<br />

wenn es nur autonom entschieden ist. Ich<br />

sage umgekehrt: Als Psychologe weiß man<br />

entwicklungspsychologisch, dass die persönliche<br />

Autonomie erarbeitet und erworben<br />

wird, dass der Mensch nicht autonom<br />

geboren wird, sondern dass die Autonomie<br />

ein Sozialisationsergebnis ist und<br />

durch vielfältige Dinge auch beschränkt<br />

sein kann. Daraus ergibt sich nicht nur der<br />

Respekt vor der Autonomie des anderen,<br />

sondern auch für das eigene Handeln das<br />

Gebot der Ausgewogenheit von Autonomie<br />

und Sorge. Psychotherapie ist keine<br />

Anbetungsstunde der Autonomie des Klienten,<br />

Respekt heißt nicht Huldigung, sondern<br />

auch hinschauen, wann genährt,<br />

wann begleitet, wann geschützt werden<br />

muss oder Ich-Funktionen vom Psychotherapeuten<br />

übernommen werden müssen.<br />

Die Grenzen der Autonomie sind auch<br />

dann gegeben, wenn jemand von psychischer<br />

Krankheit beeinträchtigt ist, etwa in<br />

einer depressiven Verfassung, oder wenn<br />

jemand von starken körperlichen Schmerzen<br />

oder anderem Leid psychischer Art<br />

beeinträchtigt ist oder in Abhängigkeit von<br />

anderen Personen eine Entscheidung trifft.<br />

All diese Einschränkungen, nicht völlige<br />

Ausfälle der persönlichen Autonomie, erleben<br />

wir beruflich als Psychotherapeuten<br />

häufig. Diese Einschränkungen sind für Juristen<br />

meist nicht fassbar. Das erschreckt<br />

mich auch in den Debatten. Es gibt dort oft<br />

nur schwarz oder weiß. Jemand ist entscheidungsfähig<br />

oder er ist es nicht. Allein<br />

die Debatte um den guten Umgang mit<br />

Demenz-Betroffenen zeigt, dass das so<br />

eindeutig überhaupt nicht ist, sondern<br />

dass ein Demenzerkrankter auch noch in<br />

fortgeschrittenen Stadien seiner Erkrankung<br />

bestimmte Entscheidungen über seinen<br />

Tagesablauf oder über Konstellationen<br />

in seiner unmittelbaren Umgebung treffen<br />

kann. Das sind Erkenntnisse übrigens nicht<br />

der Medizin, sondern der Psychologie –<br />

genauer des Forschungsteams um den<br />

Gerontopsychologen Andreas Kruse aus<br />

Heidelberg, dem das Ernstnehmen der<br />

Teilautonomie auch von fortgeschritten<br />

Demenzerkrankten zu verdanken ist.<br />

UW: Mir scheint, als würde die Frage<br />

„Wann beginnt das menschliche Leben?“<br />

oft mit eingeengtem Blick auf bestimmte<br />

Funktionen eines im Mikroskop erscheinenden<br />

Wesens beantwortet und dabei<br />

außer Acht gelassen, was menschliches<br />

Leben auch für die Menschen bedeutet,<br />

die davon sozusagen mit betroffen sind,<br />

die ja auch eine bestimmte Haltung, bestimmte<br />

Empfindungen dazu haben – etwa<br />

für ein Paar, das die Absicht hat, Eltern<br />

zu werden.<br />

MW: Ein individuelles menschliches Leben<br />

beginnt ab der sogenannten Kernverschmelzung,<br />

also ab dem Zeitpunkt, wo<br />

sich die väterlichen und mütterlichen<br />

Chromosomen miteinander verschmelzen.<br />

Das ist unumstritten – die Frage ist,<br />

ob ab diesem Zeitpunkt auch der volle<br />

Würdeschutz zutrifft. Ich meine ja, wobei<br />

ich dafür keine psychologische, sondern<br />

eine philosophische Begründung habe.<br />

Mit der Kernverschmelzung entsteht ein<br />

einmaliger und damit individueller neuer<br />

Chromosomensatz, in dem das gesamte<br />

Potenzial für die weitere Entwicklung liegt,<br />

eine Entwicklung, die kontinuierlich vom<br />

Embryo über den geborenen Menschen<br />

bis hin zu seinem Ende führt und die dessen<br />

Identität herstellt. Der Embryo entwickelt<br />

sich nicht zum Menschen, sondern<br />

als Mensch.<br />

Seine Überzeugungskraft bekommt dieser<br />

Gedanke für mich auch dadurch, dass man<br />

sich die Frage stellen muss: Was wäre denn<br />

die Alternative? Also Menschenwürde ab<br />

Einnistung in die Gebärmutter oder ab Ausbildung<br />

des Primitivstreifens oder ab Ausbildung<br />

einer menschlichen Gestalt oder –<br />

254 Psychotherapeutenjournal 3/<strong>2014</strong>

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