ptj_2014-3
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Interview mit Michael Wunder, Mitglied im Deutschen Ethikrat<br />
fragt wird, ob es sich tatsächlich um eine<br />
persönliche Entscheidung handelt oder<br />
um einen persönlich gewählten Weg des<br />
geringsten Widerstandes oder der größten<br />
Anpassung. Das ist natürlich eine diffizile<br />
Frage. Wir sehen ja bestimmte Meinungstrends,<br />
z. B. im Bereich der Pränataldiagnostik<br />
(PND), in dem es in den vergangenen<br />
15 Jahren schleichend einen Stimmungsumschwung<br />
zu einem Denken oder<br />
Empfinden gab, ein Recht auf ein gesundes<br />
Kind zu haben, ein Recht auf vollständige<br />
vorgeburtliche Diagnostik – bis hin zu<br />
einem mit der bestehenden Rechtslage<br />
gar nicht zu vereinbarenden, aber als<br />
selbstverständlich angenommenen Anspruch,<br />
eine Schwangerschaft aufgrund<br />
einer Behinderung des Kindes abbrechen<br />
zu können. Wie frei sind Entscheidungen,<br />
die heute unter diesem enormen Trenddruck<br />
entstehen? Ich würde sagen, dass<br />
das Recht auf Nichtwissen ursprünglich<br />
keine juristische, sondern eine philosophische<br />
und auch psychologische Wurzel hatte,<br />
sich diesem Druck entgegenzusetzen.<br />
Aber auch für die, die alles wissen wollen,<br />
gibt es mittlerweile an mehreren Orten<br />
sehr gute Initiativen – beispielsweise, dass<br />
werdende Eltern mit einem pränatalen<br />
Down-Syndrom-Befund mit anderen<br />
Down-Syndrom-betroffenen Eltern zusammenkommen.<br />
Es gibt solche Gruppen bereits.<br />
Das ist ein anderer Umgang mit der<br />
großen Angstreaktion solcher Eltern als das<br />
schnelle medizinische Angebot des<br />
Schwangerschaftsabbruchs. Auch hier<br />
spielt die Psychologie eine große Rolle. Es<br />
geht nicht um die Leugnung der Angst, ein<br />
solches Kind zu bekommen, sondern darum,<br />
in einem Kreis von gleichbetroffenen<br />
Eltern zu lernen, mit dieser Angst umzugehen,<br />
und zu sehen, wie man mit diesem<br />
Kind gut leben kann. Wir können nicht an<br />
einer Gesellschaft interessiert sein, in der<br />
jede Abweichung eines ungeborenen Kindes<br />
dazu führt, dass dessen Geburt verhindert<br />
wird. Wir können natürlich auch nicht<br />
daran interessiert sein, dass Schwangere<br />
aus moralischen Gründen zur Schwangerschaftsaustragung<br />
oder zur Geburt eines<br />
Kindes gezwungen werden. Aber wir können<br />
Instrumente bereitstellen, die helfen,<br />
die Entscheidung, ob abgebrochen wird<br />
oder nicht, wirklich informiert und gut zu<br />
treffen und vor allem auch menschlich.<br />
Das meine ich mit dem bewussten Einbringen<br />
des Wissens unseres Berufsstandes<br />
in die aktuellen medizinethischen Debatten.<br />
UW: Sie sprachen vom „Respekt vor der<br />
Autonomie des anderen“, z. B., wenn sich<br />
Angehörige eines hirntoten Menschen gegen<br />
eine Organentnahme aussprechen.<br />
Umgekehrt sind Menschen von so einer<br />
Organentnahme abhängig. Können wir vor<br />
dem Hintergrund der besonderen psychotherapeutischen<br />
Erfahrungen mit Abhängigkeitsgefühlen<br />
in der Arbeit der ethischen<br />
Kommissionen oder in der gesellschaftlichen<br />
Diskussion darüber Wichtiges<br />
beitragen?<br />
MW: Ich gehöre nicht zu den Menschen,<br />
die die Autonomie an die alleroberste Stelle<br />
setzen und glauben, alles sei veredelt,<br />
wenn es nur autonom entschieden ist. Ich<br />
sage umgekehrt: Als Psychologe weiß man<br />
entwicklungspsychologisch, dass die persönliche<br />
Autonomie erarbeitet und erworben<br />
wird, dass der Mensch nicht autonom<br />
geboren wird, sondern dass die Autonomie<br />
ein Sozialisationsergebnis ist und<br />
durch vielfältige Dinge auch beschränkt<br />
sein kann. Daraus ergibt sich nicht nur der<br />
Respekt vor der Autonomie des anderen,<br />
sondern auch für das eigene Handeln das<br />
Gebot der Ausgewogenheit von Autonomie<br />
und Sorge. Psychotherapie ist keine<br />
Anbetungsstunde der Autonomie des Klienten,<br />
Respekt heißt nicht Huldigung, sondern<br />
auch hinschauen, wann genährt,<br />
wann begleitet, wann geschützt werden<br />
muss oder Ich-Funktionen vom Psychotherapeuten<br />
übernommen werden müssen.<br />
Die Grenzen der Autonomie sind auch<br />
dann gegeben, wenn jemand von psychischer<br />
Krankheit beeinträchtigt ist, etwa in<br />
einer depressiven Verfassung, oder wenn<br />
jemand von starken körperlichen Schmerzen<br />
oder anderem Leid psychischer Art<br />
beeinträchtigt ist oder in Abhängigkeit von<br />
anderen Personen eine Entscheidung trifft.<br />
All diese Einschränkungen, nicht völlige<br />
Ausfälle der persönlichen Autonomie, erleben<br />
wir beruflich als Psychotherapeuten<br />
häufig. Diese Einschränkungen sind für Juristen<br />
meist nicht fassbar. Das erschreckt<br />
mich auch in den Debatten. Es gibt dort oft<br />
nur schwarz oder weiß. Jemand ist entscheidungsfähig<br />
oder er ist es nicht. Allein<br />
die Debatte um den guten Umgang mit<br />
Demenz-Betroffenen zeigt, dass das so<br />
eindeutig überhaupt nicht ist, sondern<br />
dass ein Demenzerkrankter auch noch in<br />
fortgeschrittenen Stadien seiner Erkrankung<br />
bestimmte Entscheidungen über seinen<br />
Tagesablauf oder über Konstellationen<br />
in seiner unmittelbaren Umgebung treffen<br />
kann. Das sind Erkenntnisse übrigens nicht<br />
der Medizin, sondern der Psychologie –<br />
genauer des Forschungsteams um den<br />
Gerontopsychologen Andreas Kruse aus<br />
Heidelberg, dem das Ernstnehmen der<br />
Teilautonomie auch von fortgeschritten<br />
Demenzerkrankten zu verdanken ist.<br />
UW: Mir scheint, als würde die Frage<br />
„Wann beginnt das menschliche Leben?“<br />
oft mit eingeengtem Blick auf bestimmte<br />
Funktionen eines im Mikroskop erscheinenden<br />
Wesens beantwortet und dabei<br />
außer Acht gelassen, was menschliches<br />
Leben auch für die Menschen bedeutet,<br />
die davon sozusagen mit betroffen sind,<br />
die ja auch eine bestimmte Haltung, bestimmte<br />
Empfindungen dazu haben – etwa<br />
für ein Paar, das die Absicht hat, Eltern<br />
zu werden.<br />
MW: Ein individuelles menschliches Leben<br />
beginnt ab der sogenannten Kernverschmelzung,<br />
also ab dem Zeitpunkt, wo<br />
sich die väterlichen und mütterlichen<br />
Chromosomen miteinander verschmelzen.<br />
Das ist unumstritten – die Frage ist,<br />
ob ab diesem Zeitpunkt auch der volle<br />
Würdeschutz zutrifft. Ich meine ja, wobei<br />
ich dafür keine psychologische, sondern<br />
eine philosophische Begründung habe.<br />
Mit der Kernverschmelzung entsteht ein<br />
einmaliger und damit individueller neuer<br />
Chromosomensatz, in dem das gesamte<br />
Potenzial für die weitere Entwicklung liegt,<br />
eine Entwicklung, die kontinuierlich vom<br />
Embryo über den geborenen Menschen<br />
bis hin zu seinem Ende führt und die dessen<br />
Identität herstellt. Der Embryo entwickelt<br />
sich nicht zum Menschen, sondern<br />
als Mensch.<br />
Seine Überzeugungskraft bekommt dieser<br />
Gedanke für mich auch dadurch, dass man<br />
sich die Frage stellen muss: Was wäre denn<br />
die Alternative? Also Menschenwürde ab<br />
Einnistung in die Gebärmutter oder ab Ausbildung<br />
des Primitivstreifens oder ab Ausbildung<br />
einer menschlichen Gestalt oder –<br />
254 Psychotherapeutenjournal 3/<strong>2014</strong>