ptj_2014-3
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Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />
ten aus unterschiedlichen Berufsgruppen<br />
und Institutionen in Nordrhein-Westfalen<br />
für die Befragung ausgewählt. Die Rekrutierung<br />
erfolgte im Sinne des Theoretischen<br />
Samplings sowie durch<br />
Snowball-Sampling und in Anlehnung an<br />
das Kriterium der theoretischen Sättigung<br />
(vgl. Glaser & Strauss, 2010). Zwischen Oktober<br />
2013 und Januar <strong>2014</strong> wurden n= 14<br />
Experten befragt. Vier der Experten sind<br />
männlichen Geschlechts, sechs haben<br />
selbst einen Migrationshintergrund. Folgende<br />
Professionen waren vertreten:<br />
• vier Fachärzte und Fachärztinnen für<br />
Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zwei in<br />
eigener Praxis tätig, eine leitende Oberärztin<br />
sowie ein ärztlicher Leiter einer<br />
Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik,<br />
• vier niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten<br />
und -psychotherapeutinnen<br />
(Richtlinienverfahren:<br />
drei in Verhaltenstherapie (VT), eine<br />
in Analytischer Psychotherapie<br />
(AP)),<br />
• drei Psychologische Psychotherapeuten<br />
und Psychotherapeutinnen mit Zusatzqualifikation<br />
KJP (VT),<br />
• zwei Sozialarbeiterinnen, tätig im Sozialdienst<br />
einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen<br />
Klinik bzw. in einer Einrichtung<br />
für junge Mütter mit Migrationshintergrund,<br />
• ein Pädagoge (Dr. päd.), tätig in eigener<br />
pädagogisch-therapeutischer Praxis.<br />
Die befragten Experten verfügen über umfangreiche<br />
Berufserfahrung in der psychotherapeutischen,<br />
psychiatrischen sowie<br />
pädagogischen Behandlung von Kindern<br />
und Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />
und sind zum Teil auch in der Forschung<br />
zu dieser Thematik aktiv.<br />
Die Interviews wurden im persönlichen<br />
Kontakt oder per Telefoninterview durchgeführt,<br />
wobei ein flexibel zu handhabender<br />
Interviewleitfaden eingesetzt wurde<br />
(vgl. Witzel, 2000). Sämtliche Interviews<br />
wurden digital aufgezeichnet und transkribiert.<br />
Die Aufbereitung und Auswertung<br />
des Interviewmaterials erfolgte nach dem<br />
Prinzip der Strukturierenden Inhaltsanalyse<br />
(Mayring, 2010). Dabei wurde das sehr<br />
umfangreiche Textmaterial in mehreren Arbeitsschritten<br />
systematisch reduziert, um<br />
die zentralen Inhalte herauszufiltern. Die<br />
Analyse der Interviews erfolgte zunächst<br />
fallweise durch die Markierung, Paraphrasierung<br />
und Zusammenfassung der inhaltstragenden<br />
Äußerungen; am Ende<br />
wurden fallübergreifend alle gleichlautenden<br />
Paraphrasen zu inhaltlichen Kategorien<br />
zusammengeführt. Die Entwicklung<br />
und Überprüfung der aus dem Interviewmaterial<br />
abgeleiteten inhaltlichen Kategorien<br />
erfolgte im Rahmen eines regelmäßigen<br />
Forschungskolloquiums. Die einzelnen<br />
Abschnitte im folgenden Ergebnisteil<br />
repräsentieren die Hauptkategorien des<br />
erarbeiteten Kategoriensystems. Bei der<br />
Darstellung der Befunde werden besonders<br />
plastische Originalzitate einiger Experten<br />
zur Illustration herangezogen.<br />
Ergebnisse<br />
Patientenmerkmale<br />
Das Alter der psychotherapeutisch behandelten<br />
Kinder mit Migrationshintergrund<br />
entspricht dem der normalen Klientel in<br />
der KJP. Einen verstärkten Psychotherapiebedarf<br />
sahen einige der befragten Experten<br />
bei biographischen Übergängen (z. B.<br />
Schuleintritt und Pubertätsbeginn). Tendenziell<br />
scheinen mehr Jungen als Mädchen<br />
in Behandlung zu sein.<br />
Die Nationalität der Patienten hängt stark<br />
von der jeweiligen Versorgungsregion bzw.<br />
vom Einzugsgebiet der Behandler ab. Zu<br />
beachten ist dabei, dass einige der behandelten<br />
Kinder – anders als ihre Eltern – die<br />
deutsche Staatsangehörigkeit haben. Prinzipiell<br />
sind alle in Deutschland lebenden<br />
Ethnien in der KJP vertreten. In städtischen<br />
Ballungszentren werden besonders oft<br />
Kinder und Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund<br />
und aus den Nachfolgestaaten<br />
der ehemaligen UdSSR behandelt.<br />
In jüngerer Vergangenheit werden<br />
auch verstärkt unbegleitete minderjährige<br />
Flüchtlinge aus afrikanischen Krisenländern<br />
sowie aus dem Irak, Afghanistan und<br />
Syrien in Behandlung genommen.<br />
Die meisten der befragten Experten sehen<br />
keine migrationsspezifischen Unterschiede<br />
in Art und Schwere der Störungsbilder –<br />
sofern die Kinder in Deutschland aufgewachsen<br />
sind. Anders verhält es sich bei<br />
Patienten aus Familien mit sehr schwierigen<br />
Migrationsbedingungen. Vor allem<br />
Fluchterfahrung scheint ein gravierender<br />
Risikofaktor für die Entwicklung von Posttraumatischen<br />
Belastungsstörungen (PTBS)<br />
sowie Depressionen und Angststörungen<br />
zu sein. Hingegen treten in dieser Gruppe<br />
Essstörungen (Magersucht und Bulimie)<br />
offenbar relativ selten auf. Weitere häufige<br />
Störungsbilder sind nach der Erfahrung der<br />
befragten Experten ADHS, Störung des Sozialverhaltens,<br />
emotionale Störungen, Bindungsstörungen<br />
und Schulprobleme, teilweise<br />
auch dissoziative Störungen und<br />
Psychosen. Beim Substanzmissbrauch neigen<br />
Jugendliche aus Ländern der ehemaligen<br />
UdSSR eher zum Alkoholmissbrauch,<br />
Jugendliche aus muslimisch geprägten<br />
Ländern konsumieren vergleichsweise öfter<br />
Cannabis.<br />
Ergänzend hierzu berichteten einige der<br />
befragten Experten, dass psychische Störungen<br />
bei Kindern und Jugendlichen mit<br />
Migrationshintergrund oft schwerer ausgeprägt<br />
seien. Ein Grund hierfür wird in den<br />
besonderen psychischen und soziokulturellen<br />
Belastungen gesehen, mit denen<br />
diese Kinder konfrontiert sind. Das Aufwachsen<br />
im Spannungsfeld verschiedener<br />
Kulturen bringt Entwicklungschancen, aber<br />
auch krankmachende Entwicklungsrisiken<br />
mit sich. Hinzu kommt, dass eine psychotherapeutische<br />
Behandlung von den Eltern<br />
der Kinder oft erst zu einem sehr späten<br />
Zeitpunkt bzw. bei einer sehr starken Ausprägung<br />
der Symptome initiiert wird. Für<br />
viele Eltern mit Migrationshintergrund ist<br />
es noch schwieriger als für deutsche Eltern,<br />
die Diagnose einer psychischen<br />
Krankheit zu akzeptieren.<br />
Die Anlässe für eine Psychotherapie von<br />
Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />
sind sehr vielfältig und zum<br />
Teil nicht migrationsspezifisch. Häufig sind<br />
schulische Probleme der Grund dafür, dass<br />
sich die Eltern – oftmals angeregt von Lehrern<br />
oder Sozialarbeitern – um eine Psychotherapie<br />
bemühen. In diesem Kontext<br />
berichteten zwei der befragten Experten<br />
auch, dass Kinder mit Migrationshintergrund<br />
trotz normaler Intelligenz nicht sel-<br />
258 Psychotherapeutenjournal 3/<strong>2014</strong>