ptj_2014-3
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Aktuelles aus der Forschung<br />
Unerwartete Symptomverbesserungen und<br />
-verschlechterungen im Verlauf einer<br />
Psychotherapie<br />
Implikationen für die psychotherapeutische Praxis<br />
Nina Sarubin<br />
Einleitung<br />
Forschungsarbeiten zur Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen<br />
basieren häufig auf<br />
statistischen Prä-Post-Berechnungen, welche<br />
Hinweise darauf geben sollen, ob Behandlung<br />
A oder Behandlung B zu einem<br />
signifikant besseren Ergebnis (sog. „outcome“)<br />
in einer bestimmten Patientenstichprobe<br />
führt. Individuelle Psychotherapieverläufe<br />
werden hingegen deutlich seltener<br />
untersucht (Hayes et al., 2007). Dies<br />
liegt u. a. daran, dass mitunter eine kontinuierliche,<br />
graduelle Abnahme von psychischen<br />
Symptomen angenommen wird. Einige<br />
Studien deuten jedoch – ebenso wie<br />
die klinischen Erfahrungen von Praktikern –<br />
darauf hin, dass Veränderungen bei Patienten<br />
1 durch eine Psychotherapie nicht einem<br />
linearen Muster folgen, sondern dynamisch,<br />
mit vorübergehenden Höhen und Tiefen<br />
hinsichtlich der Qualität und der Quantität<br />
der Symptomatik verlaufen können. Der folgende<br />
Artikel beschäftigt sich mit dem Phänomen<br />
von plötzlich auftretenden Verbesserungen<br />
(sog. „sudden gains“) sowie<br />
plötzlich auftretenden Verschlechterungen<br />
(sog. „sudden spikes“) von Patienten, welche<br />
sich in psychotherapeutischer Behandlung<br />
befinden.<br />
Tang und De Rubeis (1999) operationalisierten<br />
als erste Forscher plötzliche Verbesserungen<br />
von Patienten zwischen zwei<br />
aufeinanderfolgenden Sitzungen. Eine<br />
„plötzliche Verbesserung“ liegt nach ihrer<br />
Definition dann vor, wenn (1) eine absolute<br />
Veränderung vorliegt (gemäß dem RCI/<br />
reliable change index; Jacobson & Truax,<br />
1991), (2) die vorherige Symptomatik um<br />
mind. 25% reduziert wurde und (3) die<br />
Reduktion der Symptomatik stabil ist, d. h.,<br />
dass die Symptomschwere bei den vorherigen<br />
drei Therapiesitzungen signifikant höher<br />
gewesen sein sollte als die Symptomschwere<br />
in den folgenden drei Sitzungen<br />
nach dem sudden gain. Die Operationalisierung<br />
des zuletzt genannten Kriteriums<br />
der Stabilität der Verbesserung wurde aus<br />
unterschiedlichen Gründen kritisiert (Aderka<br />
et al., 2012). Ein alternatives Maß zur<br />
Prüfung der Stabilität wäre z. B., wenn eine<br />
Symptomverbesserung 1,5-mal höher ausfällt<br />
als die jeweilige Standardabweichung<br />
beim gewählten Therapieerfolgsmaß des<br />
Patienten (in standardisierten Fragebögen)<br />
im Psychotherapieverlauf (Aderka et<br />
al., 2012).<br />
Ursprünglich wurde angenommen, dass<br />
ausschließlich kognitive Prozesse zu den<br />
beschriebenen positiven Veränderungen<br />
führen (Tang & De Rubeis, 1999), mittlerweile<br />
werden jedoch eine ganze Reihe von<br />
möglichen Variablen im Zusammenhang<br />
mit sudden gains untersucht (u. a. Selbstwert,<br />
therapeutische Arbeitsbeziehung,<br />
positive und negative Lebensereignisse).<br />
Die plötzlichen Symptomveränderungen<br />
treten bei mehr als 50% der Patienten<br />
auf, welche sich wegen einer Depression<br />
erfolgreich einer psychotherapeutischen<br />
Behandlung unterzogen haben (Tang &<br />
De Rubeis, 1999). Patienten mit einer<br />
plötzlichen Symptomverbesserung im<br />
Rahmen einer Psychotherapie wegen einer<br />
Depression wiesen zu Behandlungsende<br />
sowie sechs und 18 Monate<br />
später weniger Symptome auf als Patienten,<br />
welche eine kontinuierliche Verbesserung<br />
der Symptomatik im Laufe der<br />
Psychotherapie erlebt hatten (Tang & De<br />
Rubeis, 1999). Aktuelle Studien untermauern<br />
diesen Befund von Tang und De<br />
Rubeis dahingehend, dass sudden gains<br />
eine signifikante Assoziation zu einer größeren<br />
Symptomreduktion zu Behandlungsende<br />
im Vergleich zu Patienten mit<br />
kontinuierlicher Verbesserung der Symptomatik<br />
aufweisen (Aderka et al., 2012).<br />
Eine Literatursuche in der psychologischen<br />
Datenbank PsycINFO zu den Schlagwörtern<br />
„depression“, „sudden gains“ und<br />
„psychotherapy“ ergab 19 wissenschaftliche<br />
Arbeiten. Die Kombination der Begriffe<br />
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden<br />
im Folgenden nicht durchgehend beide<br />
Geschlechtsformen genannt, selbstverständlich<br />
sind jedoch Frauen und Männer gleichermaßen<br />
gemeint.<br />
274 Psychotherapeutenjournal 3/<strong>2014</strong>