ptj_2014-3
ptj_2014-3
ptj_2014-3
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />
auch darauf hin, dass sich muslimische<br />
Familien oft stark an männlich geprägten<br />
Hierarchien orientieren. Von Psychotherapeuten<br />
wird deswegen erwartet, klar eine<br />
Führungsrolle einzunehmen. Für weibliche<br />
Psychotherapeutinnen kann dies eine Herausforderung<br />
darstellen, da sie möglicherweise<br />
gegen Widerstände und Vorbehalte<br />
männlicher Familienmitglieder ankämpfen<br />
müssen. Einige Experten merken zudem<br />
an, dass muslimische Familien eher männliche<br />
Psychotherapeuten bevorzugen (am<br />
besten einen Arzt), während sich deutsche<br />
Familien eher eine weibliche, mütterliche<br />
Psychotherapeutin wünschen.<br />
Einige der befragten Experten wiesen darauf<br />
hin, dass es zu kulturellen Missverständnissen<br />
kommen kann, weil sich die<br />
Erziehungsziele in Migrantenfamilien von<br />
denen des westlichen Kulturraums zum<br />
Teil grundlegend unterscheiden. Das primäre<br />
Ziel der westlichen Erziehung ist<br />
demnach die individuelle Entwicklung des<br />
Kindes. Dieses soll stark und unabhängig<br />
von der Familie werden. Das primäre Erziehungsziel<br />
der südöstlichen Kultur ist hingegen<br />
eine lebenslange Bindung an die Familie.<br />
Hierdurch werden andere Erziehungsstile<br />
und Bindungsverhaltensmuster<br />
bedingt, die mit psychotherapeutischen<br />
Zielsetzungen (z. B. Autonomieentwicklung)<br />
kollidieren können. Ein weiteres Beispiel<br />
für kulturell bedingte Missverständnisse<br />
ist der Umgang mit Autoritäten. In<br />
traditionellen muslimischen Familien werden<br />
Kinder z. B. dazu erzogen, erwachsenen<br />
Respektspersonen nicht direkt in die<br />
Augen zu schauen. Die Kinder vermeiden<br />
deswegen z. B. auch den Augenkontakt<br />
gegenüber Lehrern, Ärzten und Psychotherapeuten,<br />
was von diesen als mangelndes<br />
Selbstvertrauen oder gestörtes Sozialverhalten<br />
fehlgedeutet werden kann. Um<br />
derartige kulturelle Missverständnisse zu<br />
vermeiden, ist es nach Auffassung der befragten<br />
Experten nötig, Kultursensibilität<br />
und -wissen verstärkt und verpflichtend in<br />
die Curricula der psychotherapeutischen<br />
und pädagogischen Berufe aufzunehmen.<br />
Umgang mit Sprachbarrieren<br />
Psychotherapie funktioniert zu großen Teilen<br />
über verbale Kommunikation. Für den<br />
Therapieprozess ist aber nicht nur ein<br />
grundlegendes Sprachverständnis wichtig,<br />
sondern zudem auch ein gemeinsames<br />
Sprachgefühl, in welchem Nuancen und<br />
sprachliche Feinheiten erkannt und interpretiert<br />
werden können. Eine Expertin<br />
merkte hierzu an: „Es ist schon schwer, im<br />
Deutschen darauf zu achten, keine Sachen<br />
anzupieksen oder dass keine Missverständnisse<br />
entstehen. Es ist daher einfacher,<br />
wenn man ein muttersprachlicher<br />
Therapeut ist, da man zu dieser Sprache<br />
ein besseres Gefühl hat.“ In der Behandlung<br />
von Kindern und Jugendlichen mit<br />
Migrationshintergrund ist diese gemeinsame<br />
sprachliche Basis oft nur ansatzweise<br />
oder gar nicht vorhanden, was den Therapieprozess<br />
erheblich erschweren kann. Die<br />
befragten Experten sehen es daher als vorteilhaft<br />
an, wenn der Psychotherapeut<br />
selbst fließend die Muttersprache des Patienten<br />
spricht oder zumindest über gute<br />
Kenntnisse dieser Sprache verfügt. Leider<br />
ist die Anzahl der Psychotherapeuten, die<br />
z. B. Türkisch, Arabisch oder Russisch sprechen,<br />
relativ gering; bei seltenen Sprachen<br />
(z. B. afrikanischen Dialekten) existieren<br />
meist gar keine muttersprachlichen Psychotherapeuten.<br />
Im Übrigen können auch<br />
mangelhafte Deutschkenntnisse der Eltern<br />
ein Problem darstellen, etwa dann, wenn<br />
diese dadurch eine Infragestellung ihrer<br />
elterlichen Autorität erleben. Einige Experten<br />
sehen gerade die fehlenden Deutschkenntnisse<br />
türkischer Mütter als problematisch<br />
an. Gerade für diese Familien wäre es<br />
wichtig, Psychotherapie bei einem türkischsprachigen<br />
Psychotherapeuten machen<br />
zu können.<br />
Bei erheblichen Sprachbarrieren empfahlen<br />
die befragten Experten die Durchführung<br />
einer Psychotherapie unter Hinzuziehung<br />
eines geeigneten Dolmetschers.<br />
Dies gilt besonders für Kinder aus Migrantenfamilien,<br />
die wenig verbreitete Sprachen<br />
sprechen. Für diese Patienten ist es<br />
teilweise aber auch schwierig, einen Dolmetscher<br />
zu finden. So bemerkte ein Interviewpartner<br />
resigniert: „Wenn jemand etwa<br />
aus Ghana kommt und Ga spricht,<br />
sind wir aufgeschmissen“.<br />
Zudem können durch den Einbezug eines<br />
Dolmetschers auch neue Probleme entstehen,<br />
z. B. längere Therapiesitzungen<br />
und kompliziertere Terminabsprachen. Die<br />
größte Schwierigkeit scheint jedoch die<br />
Frage der Finanzierung zu sein. Da die Arbeit<br />
eines Dolmetschers nicht im Leistungskatalog<br />
der gesetzlichen Krankenkassen<br />
vorgesehen ist, müssen die Kosten<br />
durch die Familien der behandelten Kinder<br />
oder durch den Psychotherapeuten getragen<br />
werden. Viele Familien sind hierzu jedoch<br />
nicht bereit oder in der Lage. Auch<br />
die Psychotherapeuten kommen für diese<br />
Kosten nur ungern auf. Vor diesem Hintergrund<br />
greifen manche Psychotherapeuten<br />
auch auf die Übersetzungsarbeit von Familienmitgliedern<br />
oder Freunden der Patienten<br />
zurück. Hiermit sind jedoch ebenfalls<br />
Probleme verbunden. So kann es z. B. für<br />
Jugendliche unangenehm und peinlich<br />
sein, bestimmte Äußerungen ihrer Eltern<br />
zu übersetzen. Die Mehrheit der befragten<br />
Experten ist daher der Auffassung, dass ein<br />
professioneller Dolmetscher einem adhoc-Übersetzer<br />
aus dem Freundes- oder<br />
Familienkreis vorzuziehen ist.<br />
Die Hinzuziehung eines Dolmetschers<br />
kann den Psychotherapieprozess erheblich<br />
beeinflussen. So kann die Anwesenheit einer<br />
weiteren Person zur Verstärkung von<br />
Schamgefühlen führen, insbesondere bei<br />
der Thematisierung traumatischer Erlebnisse<br />
(z. B. einer Vergewaltigung). Einer<br />
der Befragten äußerte zur Thematik weiterhin:<br />
„Wenn ich einen Dolmetscher dabei<br />
habe, bin ich einfach nicht so nah am<br />
Klienten dran.“ Auch das Geschlecht und<br />
die Ethnie des Dolmetschers spielen eine<br />
Rolle. So berichtete eine befragte Expertin,<br />
dass Familien aus dem Kosovo keinen albanischen<br />
Dolmetscher wünschen, da diese<br />
als Täter und Peiniger während des Kosovokrieges<br />
betrachtet werden. Weiterhin<br />
ist zu beachten, dass durch die Übersetzung<br />
sprachliche Feinheiten und Nuancen<br />
verlorengehen können, die vom Psychotherapeuten<br />
als wesentlich erachtet werden.<br />
In diesem Zusammenhang berichteten<br />
einige der Experten, dass Dolmetscher<br />
nicht in jedem Fall die Sensibilität und das<br />
Taktgefühl haben, das in einer Psychotherapie<br />
mit Kindern zu wünschen sei. In der<br />
Regel haben Dolmetscher keine psychotherapeutischen<br />
Kenntnisse; oft arbeiten<br />
sie freiberuflich oder ehrenamtlich. Zudem<br />
sind Psychotherapeuten gelegentlich skeptisch,<br />
ob durch die Dolmetscher auch tatsächlich<br />
das übersetzt wird, was sie ausdrücken<br />
wollen. Eine Expertin beschrieb<br />
260 Psychotherapeutenjournal 3/<strong>2014</strong>