Horizonte - Kantonsschule Enge
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Jahresbericht 2010/2011<br />
58<br />
Die Milliardärin scheint allerdings nicht viel<br />
von diesen Ehrerbietungen der sehr unterwürfig<br />
wirkenden Güllener zu halten. Es sind andere<br />
ungewöhnliche Anliegen, die ihr dringlicher<br />
erscheinen: Stellt die Ärztin auch Totenscheine<br />
aus? Hat der Turner mit seinen kräftigen Händen<br />
wohl schon jemanden erwürgt?<br />
Bald darauf wird klar, wieso Claire sich mit diesen<br />
seltsamen Fragen beschäftigt. Vor versammeltem<br />
Städtchen verkündigt sie, Güllen eine<br />
Milliarde zu schenken, was euphorischen Jubel<br />
unter der Bevölkerung auslöst.<br />
Eine Milliarde! Geld, das die heruntergekommene<br />
Stadt so bitter nötig hat!<br />
Der Haken: Jemand muss Alfred Ill töten, um<br />
ein altes Unrecht aus der Welt zu schaffen. Totenstille.<br />
Mit diesem Angebot stellt sie die Bevölkerung<br />
nun vor eine schwerwiegende Entscheidung.<br />
Lassen sich die Güllener kaufen?<br />
«Lieber arm als blutbefleckt!», rufen die Bürger<br />
im Chor.<br />
In dieser Schlüsselszene haben auch die sehr<br />
authentisch wirkenden Blinden Koby und Loby<br />
ihren ersten grösseren Auftritt. Die zwei Eunuchen<br />
wurden von Claire kastriert, weil sie<br />
Alfred Ill mit einer Falschaussage unterstützt<br />
hatten, die Claire damals als alleinstehende<br />
Mutter in den Ruin getrieben hatte. Den zwei<br />
Eunuchen mit Stock und Sonnenbrille gelingt<br />
es schnell, das Publikum für sich zu gewinnen.<br />
Als sich die beiden scheinbar orientierungslos<br />
dem Bühnenrand nähern, hat man sogar das<br />
Gefühl, die zwei vor einem Sturz auf die vordersten<br />
Sitzreihen schützen zu müssen.<br />
Die Bühne wird nun für längere Zeit in zwei<br />
Hälften aufgeteilt. Auf der einen Seite richtet<br />
sich die Milliardärin in aller Ruhe auf ihrem Hotelbalkon<br />
ein – lesend, speisend, abwartend. Die<br />
schauspielerische Leistung der sehr alt wirkenden<br />
Isabelle Steinegger kann sich sehen lassen.<br />
Die andere Seite wird zu Alfred Ills Laden umfunktioniert.<br />
Die Holzkisten, die zuvor als Rednerpult<br />
oder Sitzbank gedient haben, stehen<br />
nun für die Warengestelle in Ills Laden.<br />
Alfred Ill muss nun wehrlos zuschauen, wie sich<br />
die Bevölkerung zusehends bewaffnet und immer<br />
verschwenderischer mit dem Geld umgeht.<br />
Einer Migros-Budget-Milch wird nun die teurere<br />
Bio-Vollmilch vorgezogen, die teurere Schokolade<br />
wird gewählt und alle Bürger tragen plötzlich<br />
neue gelbe Schuhe unter dem Motto: «Man wird<br />
sich ja schliesslich noch etwas leisten dürfen.»<br />
Tag für Tag scheint der Reichtum zu wachsen,<br />
ohne dass sich in der Realität die finanziellen<br />
Voraussetzungen der Stadt verbessert haben.<br />
Man lebt auf Kredit. Mit jedem verschuldeten<br />
Franken wächst der Druck auf Alfred Ill, der<br />
sich bedroht fühlt, aber bei Polizisten, beim Bürgermeister,<br />
Pfarrer und Arzt nur auf taube Ohren<br />
stösst und nicht ernst genommen wird. Mit<br />
überzeugendem Gestikulieren und entsetzten<br />
Ausrufen gelingt es Andrea Brusconi als Alfred<br />
Ill, dem Zuschauer seine schwierige Situation<br />
eindrücklich näherzubringen.<br />
Die Inszenierung des Theaterprojekts endet<br />
mit der Versammlung aller Güllener. Alfred Ill<br />
scheint sich mit seinem Schicksal abgefunden<br />
zu haben und erhebt sich protestlos wie ein Angeklagter<br />
vor dem versammelten Städtchen, das<br />
nun über ihn richten soll. Eine antike Kamera,<br />
die einem Gewehr ähnelt, hält diesen historischen<br />
Augenblick fest.<br />
«Nicht des Geldes, sondern der Gerechtigkeit<br />
wegen» wird das Angebot der Milliardärin angenommen.<br />
Der Theatersaal verdunkelt sich,<br />
Alfred Ill tritt in die Gasse aus Güllenern, die<br />
sich kurz darauf schliesst. Die Ärztin nähert<br />
sich dem Toten, der mit einem roten Tuch bedeckt<br />
ist, das vermutlich eine Blutlache andeutet.<br />
Sie diagnostiziert: «Tod aus Freude». Claire<br />
Zachanassian, die erst jetzt auftritt, überreicht<br />
den Güllenern den versprochenen Scheck. Seine<br />
rote Farbe symbolisiert, dass er von Blut befleckt<br />
ist.<br />
Das brillante Theaterstück von Friedrich Dürrenmatt,<br />
das als zeitlose Gesellschaftskritik immer<br />
wieder aufhorchen lässt, ist das solide Fundament<br />
dieser Inszenierung. Mit wenigen Ausnahmen<br />
wurde darauf verzichtet, vom wertvollen<br />
Originaltext abzuweichen. Spektakel und Überraschungen<br />
wurden nur sparsam eingesetzt. Das<br />
abstrakte Bühnenbild, das sich aus einfachstem<br />
Material zusammensetzt, vermag alle wichtigen<br />
Schauplätze sichtbar zu machen und die<br />
Aufmerksamkeit kann sich dadurch noch mehr<br />
auf die Darsteller richten, die mit ihrer schauspielerischen<br />
Leistung den Charakteren gerecht<br />
geworden sind. Die gut durchdachte Aufführung<br />
hat die Aula für zwei Stunden zum Theatersaal<br />
werden lassen.