Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe
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ich kann mir kaum vorstellen, dass ich das gemalt<br />
habe!« 19 Ebenso seismografisch fing Ludwig<br />
Meidner mit seinen düster-visionären Apokalyptischen<br />
Landschaften (Abb. 7) die spürbaren kulturellen,<br />
sozialen und politischen Spannungen ein.<br />
Bedeutsam für die Genese dieses Sujets waren<br />
für den Künstler nicht nur die spannungsgeladene<br />
Atmo sphäre und Weltuntergangsahnungen zu<br />
jener Zeit, 20 sondern auch seine literarischen<br />
Begegnungen. 21 Ludwig Meidner, selbst literarisch<br />
tätig und Veranstalter der 1913 in seinem<br />
Atelier stattfindenden Jours fixes mit Künstlern<br />
und Schriftstellern, schloss 1912 eine intensive<br />
Freundschaft mit dem Lyriker Jakob van Hoddis<br />
(Abb. S. 118). Dieser bewegte die empfindsamen<br />
und erregten Gemüter mit dem »berühmtesten<br />
Gedicht des <strong>Expressionismus</strong>« Weltende<br />
(s. S. 118), das diese unbestimmte Stimmung in<br />
Worte fasste: »Diese zwei Strophen, o diese acht<br />
Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt<br />
zu haben, uns emporgehoben zu haben aus<br />
einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten<br />
und von der wir nicht wußten, wie wir sie<br />
verlassen sollten.« 22 Bildnerisch wie literarisch<br />
fing die künstlerische Jugend den zeitgenössischen<br />
Konflikt als eine die alte Welt zersetzende<br />
Endzeitstimmung ein. Diese Endzeitstimmung<br />
ist oftmals eine intuitive Reaktion auf historische<br />
Wendepunkte und wurde nun von den Expressionisten<br />
mit einem kampfbereiten Widerspruchs-<br />
und Aufbruchswillen zu neuen Werten verbunden.<br />
Es war ein Aufschrei gegen die bedrückende<br />
Stille der als starr und entleert empfundenen Gesellschaft<br />
in einer Umbruchsituation.<br />
Zusammenschluss als Schulterschluss<br />
Der Aufschrei galt ebenso der verhärteten<br />
Haltung der älteren Generation gegenüber<br />
»jugend lichen« Entfaltungsmöglichkeiten. Denn<br />
»in der Generation unserer Väter kam ein Dichter,<br />
ein Musiker erst zu Ansehen, wenn er sich<br />
›erprobt‹, wenn er sich der gelassenen, der<br />
soliden Ge schmacksrichtung der bürgerlichen<br />
Gesellschaft angepasst hatte«. 23 Jenseits dieser<br />
»Geschmacksrichtung« fanden Künstler und<br />
Literaten in weiten Kreisen weder Wertschätzung<br />
noch Förderung. Gegen diese verfestigten<br />
Strukturen und die Erfahrung von Zurückweisung<br />
und Zerrissenheit suchte die Jugend<br />
nach wirksamen Strategien. So schöpfte die<br />
Künstlervereinigung Brücke sämtliche Mittel<br />
der Öffentlichkeitsarbeit in einer für Künstlergruppen<br />
neuen Aktivität und Intensität aus: Mit<br />
selbst gestalteten Signets, Briefköpfen, Einladungen,<br />
Handzetteln, Plakaten und Anzeigen<br />
unter anderem im Sturm wurde die öffentliche<br />
Aufmerksamkeit gesucht und der initiativ angeworbene<br />
Kreis der »passiven Mitglieder« mit<br />
eigenen Postkarten, Mitgliedskarten und Jahresmappen<br />
an sich gebunden. Zielstrebig wurden<br />
Künstler, die in Dresden ausgestellt hatten<br />
und dem künstlerischen Credo der Brücke entsprachen,<br />
zwecks eines Beitritts zur Künstlervereinigung<br />
angeschrieben. »Zwischen frühesten<br />
graphischen Drucken und Zeichnungen […]<br />
lag dieser Brief, der damals uns eine Überraschung<br />
war und eine seltsam große Freude. Ich<br />
war nicht allein!« 24 Emil Noldes erfreute Reaktion<br />
1906 auf diese schriftliche Bitte offenbart<br />
Sinn und Sehnen zugleich: Zusammenschluss<br />
als stärkender Schulterschluss gegen die<br />
ungewollte Isolation. Der Zusammenhalt war<br />
aufgrund der erdrückenden Zwangslage junger<br />
Künstler zwischen 1905 und 1914 nötiger denn<br />
je: Selbst progressive Gale rien mit Kontakten<br />
zu potenziellen Kunden und Auswahlgremien<br />
wie beispielsweise der Berliner Secession<br />
waren von älteren, vor nicht allzu langer Zeit<br />
selbst avantgardistischen Generationen besetzt,<br />
die sich gegen die expressionistischen<br />
Tendenzen sperrten. Aufgrund des Mangels<br />
an Möglichkeiten schufen sich die Expressionisten<br />
in den zahlreichen Zusammenschlüssen,<br />
den neu gegründeten Zeitschriften und einem<br />
regen Veranstaltungs- und Ausstellungsbetrieb<br />
eigene fruchtbare Foren des Austausches und<br />
der Etablierung. Zudem erforderte die Reizüberflutung<br />
in den ruhelosen Metropolen neue<br />
Verhaltensmuster. Intuitiv inspiriert durch die<br />
synästhetischen Stimuli der Großstadt schien<br />
ein Zusammenschluss von Kunst, Literatur, Architektur,<br />
Tanz und Musik größere Schlagkraft<br />
zu verheißen. So entstanden gattungsübergreifende<br />
Netzwerke mit einer zuvor kaum vorgefundenen<br />
Verdichtung. Damit waren günstige<br />
Voraussetzungen für ganzheitlich orientierte<br />
<strong>Gesamtkunstwerk</strong>e geschaffen. Ähnlich wie<br />
die Idee der Künstlervereinigung war auch die<br />
des <strong>Gesamtkunstwerk</strong>s nicht neu. Neu war<br />
allerdings die Radikalität des Anspruchs, hervorgerufen<br />
durch die Zerrissenheit der Zeit,<br />
den doktrinären Ausschluss der Jugend und<br />
die heilsähnlichen Ansichten über eine ideale<br />
Welt. Neu war folglich die Ausdehnung von der<br />
ästhetischen auf das »Innere des Menschen«<br />
abzielende Dimension: »Die Kunst sollte in die<br />
Masse getragen werden, zum Unterschied zum<br />
Jugendstil, der bloß die Oberfläche des Lebens<br />
verschönern wollte und sich nicht an das Innere<br />
des Menschen wendete. <strong>Expressionismus</strong> war<br />
eine Zeiterscheinung, keine Kunstmode.« 25<br />
Innerhalb der zunehmenden Ausformung<br />
des dichten Netzwerkes lassen sich Entwicklungslinien<br />
ziehen: Zunächst herrschte<br />
die Neigung vor, sich als Verbund, Veranstaltungs-<br />
oder Ausstellungsgemeinschaft<br />
zusammenzuschließen wie beispielsweise<br />
der Verein für Kunst von Herwarth Walden<br />
1904, die Künstlergruppe Brücke 1905, der<br />
Neue Club und die Neue Künstlervereinigung<br />
München 1909. Die Schlüsseljahre<br />
lagen zwischen 1910 und 1912: In dieser<br />
Zeitspanne wurde in dichter Folge gegründet:<br />
angefangen mit den Zeitschriften Der<br />
Sturm im März 1910 und Die Aktion im Februar<br />
1911, den Künstlervereinigungen Neue<br />
Secession im April 1910 und der Blaue Reiter<br />
im Dezember 1911. Und in dieser Phase<br />
wurden wie kaum zuvor – quantitativ und<br />
qualitativ – wegweisende Kontakte über<br />
die eigenen Kreise und Gattungen hinaus<br />
geknüpft.<br />
Diese expandierende Entwicklungslinie lässt sich<br />
ebenso innerhalb eines Zusammenschlusses<br />
nach vollziehen: Im Streben nach Anerkennung<br />
und Anschluss öffneten sich beispielsweise Kurt<br />
Hiller, Erwin Loewenson und Jakob van Hoddis<br />
als Gründer des Neuen Clubs, einer der wichtigsten<br />
literarischen Vereinigungen des <strong>Expressionismus</strong>,<br />
schon früh nach außen. Im Frühjahr 1910<br />
suchten sie aktiv den brieflichen und persönlichen<br />
Kontakt zu anderen Literaten und den avantgardistischen<br />
Zeitschriften Der Demokrat und Der<br />
Sturm.<br />
107<br />
26 Der Wunsch nach Außenwirkung gipfelte<br />
in der Etablierung des Neopathetischen Cabarets,<br />
das ab dem 1. Juni 1910 als freies Forum für<br />
einen »neuen Denkstil, einen neuen Wertungsund<br />
Lebensstil« 27 dienen sollte und in dem Literatur,<br />
Musik sowie Tanz zur Aufführung kam. Nun<br />
lohnte sich die offensive Kontaktpolitik: Vielfach<br />
nahmen die Angeschriebenen – wie der Demokrat-Schriftleiter<br />
Franz Pfemfert – als Zuschauer<br />
an den Veranstaltungen teil oder traten – wie<br />
beispielsweise der Sturm-Herausgeber Herwarth<br />
Walden mit eigenen und fremden Kompositionen<br />
am Klavier – selbst auf. Seine damalige Frau,<br />
die Lyrikerin Else Lasker-Schüler, trug ihre poetischen<br />
und dramatischen Werke ab Dezember<br />
1910 regelmäßig vor; unter anderem wurde ihr<br />
bereits 1908 verfasstes Drama Die Wupper, das<br />
erst 1919 am Deutschen Theater in Berlin mit<br />
Bühnenbildern von Ernst Stern zur Uraufführung<br />
kommen sollte (Abb. S. 184), schon am 18. Januar<br />
1911 im Neopathetischen Cabaret gewürdigt. Innerhalb<br />
der Mitgliedschaft des Neuen Clubs trat<br />
der Kunsthistoriker Simon Wilhelm Guttmann<br />
(Ghuttmann) als reger und gattungsübergreifender<br />
Fürsprecher hervor: Er führte den jungen,<br />
noch völlig unbekannten Georg Heym, der neben<br />
Georg Trakl zu den herausragenden Vertretern<br />
der expressionistischen Literatur gehört, in den<br />
Neuen Club ein, und veröffentlichte im Juni 1912<br />
nach dessen frühen Tod die Gedichtsammlung<br />
Umbra vitae. Zwölf Jahre später illustrierte Ernst<br />
Ludwig Kirchner diesen Lyrikband und schuf so<br />
eines der schönsten Bücher des <strong>Expressionismus</strong><br />
(Abb. S. 114). Außerdem kam über Guttmann der<br />
Kontakt mit den Brücke-Künstlern Erich Heckel,<br />
Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff<br />
zustande. Ein Beleg für die Kooperation von<br />
Kunst und Literatur ist der von Karl Schmidt-<br />
Rottluff gestaltete Schriftzug des Neopathetischen<br />
Cabarets, der zum ersten Mal die Kopfleiste<br />
des Programms für den 16. Dezember 1911<br />
zierte (Abb. 8). Zwar bestand der Neue Club im<br />
Juni 1912 nur noch aus drei Mitgliedern, 28 aber<br />
einen solidarischen Nachklang fand das Neopathetische<br />
Cabaret in der Namens gebung der<br />
kurzlebigen Künstlergruppe Die Pathe tiker um<br />
den Van-Hoddis-Freund Ludwig Meidner, die im<br />
November 1912 in der Sturm-Galerie ausstellte. 29<br />
Zentrale und entscheidende Orte für den<br />
ersehnten Schulterschluss, für den oftmals<br />
sogar ersten gleichgesinnten Kontakt<br />
und die lebhaften Diskussionen waren<br />
die Café häuser. Im Berliner Café des<br />
Westens, im Volksmund auch Café Größenwahn<br />
genannt, knüpfte bei spielsweise<br />
Max Pechstein, aktives Mitglied der Brücke,<br />
wohl seine Verbindungen zu Herwarth<br />
Walden und dessen Sturm-Kreis und grün -<br />
dete nach seiner Ablehnung durch das<br />
Auswahlgremium der Berliner Secession<br />
gemeinsam mit Georg Tappert, Moriz<br />
Melzer und Heinrich Richter-Berlin die<br />
Neue Secession. Fieberhaft wurde in dieser<br />
freundschaftlichen Stätte der Gleichgesinnten<br />
auch nach einem bekennenden<br />
Titel für die neue avantgardistische<br />
Zeitschrift Franz Pfemferts (Abb. S. 124)<br />
gesucht. Dieser brachte nach dem Bruch<br />
mit dem Heraus geber des Demokraten<br />
wegen der Nichtveröffentlichung eines<br />
Artikels des Neuen-Club-Gründers Kurt<br />
Hiller im Februar 1911 Die Aktion heraus.<br />
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