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Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe

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Der Wille zur größtmöglichen, alle Sinne erregenden<br />

Wirkung setzte in der Kunst und Literatur<br />

des <strong>Expressionismus</strong> Ideen und Aktivitäten<br />

frei, die an den medientechnologischen Umwälzungen<br />

um 1900 sowie an den Möglichkeiten zur<br />

Koordination unterschiedlicher Kunstarten reges<br />

Interesse zeigten. Der Wettstreit der Künste,<br />

der seit der Renaissance zu einem wesentlichen<br />

Impuls ihrer Weiterentwicklung wurde, weicht<br />

in der ästhetischen Moderne Programmen und<br />

Praktiken gegenseitiger Durchdringung. In der<br />

Zeit des <strong>Expressionismus</strong> prägte nicht Konkurrenz,<br />

sondern Kooperation das Verhältnis zwischen<br />

den Künsten. Aus dem synästhetischen<br />

Zusammenspiel von Licht, Farbe, Wort, Musik<br />

und Körpersprache erhoffte sich der <strong>Expressionismus</strong><br />

eine Intensivierung des künstlerischen<br />

Ausdrucks und der emotionalen Erregung. Den<br />

»bestimmten Klang einer Kunst durch den identischen<br />

Klang einer anderen Kunst zu unterstützen«<br />

ist nach Kandinsky eine der Möglichkeiten,<br />

»eine besonders gewaltige Wirkung zu<br />

erzielen«.<br />

52<br />

1 In diesem Sinne forderte auch Franz<br />

Werfel 1913: »Das Theater ist der Ort, wo alle<br />

einander wechselseitig dienen, Schauspieler,<br />

Zuschauer, Licht und Dichter, Musik und Zufall,<br />

um besessen das Ganze zu bilden, das wir Wirkung<br />

nennen und Effekt.« 2<br />

Die historische Leistung des <strong>Expressionismus</strong><br />

besteht nicht zuletzt in der kollektiven<br />

Produktivität, mit der er die medialen und<br />

künstlerischen Möglichkeiten seiner Zeit<br />

ausschöpfte. Das gilt insbesondere für die<br />

Aktivitäten im Umkreis der Zeitschrift Der<br />

Sturm (Abb. 1). Georg Levin, dem seine erste<br />

Frau, Else Lasker­Schüler, den Namen<br />

Herwarth Walden gab (Abb. 2), gründete<br />

die Zeitschrift 1910 und machte sie zum<br />

organisatorischen Zentrum und publizistischen<br />

Forum nicht nur der damals jüngsten<br />

Literatur, sondern auch der anderen<br />

Künste. 1912 eröffnete Herwarth Walden<br />

die lange Reihe seiner Kunstausstel lungen<br />

in Berlin mit den Arbeiten des Blauen Reiters.<br />

Neben der Zeitschrift, neben den<br />

Sturm­Ausstellungen und der Sturm­Galerie<br />

existierten bald der Buchverlag Der<br />

Sturm, die Sturm­Kunstschule, die Veranstaltungsreihe<br />

der Sturm­Abende und der<br />

Theaterverlag Sturm­Bühne. Mit einiger<br />

Be rechtigung machte einer der Wortführer<br />

dieser Zeitschrift, Rudolf Blümner, 1918<br />

geltend, »daß alle Künstler, die eine führende<br />

Bedeutung für den <strong>Expressionismus</strong><br />

haben, an einer Stelle vereint sind. Diese<br />

ist ›Der Sturm‹«. 3<br />

Die Zeitschrift selbst fand in der künstlerisch<br />

ambitionierten Kombination<br />

von Text und Bild zahlreiche Nachahmungen.<br />

Ein lange unterschätzter Teil<br />

ex pres sio nistischer Kunst bestand in<br />

Literatur illustrationen. Sie waren keineswegs<br />

bloß schmückendes Beiwerk<br />

zu den Zeitschriften, Almanachen und<br />

Büchern. 4 Mit ihnen entsprach der<br />

<strong>Expressionismus</strong> vielmehr dem Programm<br />

des <strong>Gesamtkunstwerk</strong>es, das<br />

alle Künste zu vereinigen suchte. An<br />

den zahllosen Zeichnungen, Radierungen,<br />

Holzschnitten oder Lithografien<br />

auf Buchumschlägen, Titelblättern<br />

der Zeitschriften oder auch zwischen<br />

den literarischen Texten selbst hatten<br />

Ludwig Meidner, Oskar Kokoschka,<br />

Wassily Kandinsky, Max Beckmann,<br />

Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein,<br />

Alfred Kubin und andere bedeutende<br />

Künstler maßgeblichen Anteil.<br />

Der <strong>Expressionismus</strong> war in Deutschland eine<br />

kulturrevolutionäre Bewegung, die zwischen 1905<br />

und 1925 alle Künste zugleich und in wechselseitiger<br />

Abhängigkeit erfasste: nicht nur Malerei<br />

und Literatur, sondern auch Architektur, Schauspielkunst,<br />

Tanz, Musik und Film. Zahlreiche Repräsentanten<br />

des <strong>Expressionismus</strong> waren Mehrfachbegabungen.<br />

Herwarth Walden musizierte<br />

und komponierte, schrieb zahlreiche Gedichte,<br />

Dramen und Romane, Essays, Manifeste und Kritiken.<br />

Ernst Barlach, Oskar Kokoschka, Wassily<br />

Kandinsky oder Alfred Kubin (Abb. 3) brachten<br />

in der Zeit des <strong>Expressionismus</strong> nicht nur bedeutende<br />

Werke der bildenden Kunst hervor, sondern<br />

veröffentlichten auch literarische Texte. Arnold<br />

Schönberg komponierte nicht nur, sondern malte<br />

auch abstrakte Bilder. Else Lasker­Schüler fügte<br />

ihren Gedichtbänden eigene Zeichnungen hinzu.<br />

Die konservative Kunstkritik beobachtete<br />

diese Entwicklungen damals mit Argwohn.<br />

Der Expressionist Paul Kornfeld hielt ihr<br />

im Programmheft zur Dresdner Uraufführung<br />

von Oskar Kokoschkas drei Einaktern<br />

Mörder, Hoffnung der Frauen, Hiob und Der<br />

brennende Dornbusch am 3. Juni 1917 die für<br />

den <strong>Expressionismus</strong> bezeichnenden Sätze<br />

entgegen: »Fragt man: ›Warum schreibt<br />

der Maler Kokoschka Dramen, statt nur Bilder<br />

zu malen?‹ – so erwidere ich mit der<br />

Gegen frage: ›Warum komponiert er nicht<br />

auch Symphonien, Opern, Lieder, warum<br />

ist er nicht auch Bildhauer?‹« (s. S. 262). 5<br />

Der Expressionist und Dadaist Kurt Schwitters<br />

beabsichtigte dem ganz entsprechend nach<br />

eige nem Bekenntnis, nicht Spezialist einer<br />

Kunst art, sondern Künstler zu sein: »Mein Ziel<br />

ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten<br />

zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit.<br />

[...] Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen<br />

so zusammengeklebt, daß die Anordnung<br />

rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe<br />

umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf<br />

denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe<br />

Bilder so genagelt, daß neben der malerischen<br />

Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht.<br />

Dieses geschah, um die Grenzen der<br />

Kunstarten zu verwischen.« 6<br />

Der <strong>Expressionismus</strong> erneuerte das romantische<br />

Ideal des <strong>Gesamtkunstwerk</strong>es, das im<br />

19. Jahrhundert in Richard Wagners Opern<br />

prominente Beispiele der Realisierung fand.<br />

Futurismus, <strong>Expressionismus</strong> und Dadaismus<br />

entwickelten es experimentell weiter. In<br />

kritischer Auseinandersetzung vor allem mit<br />

Wagner entwarf Kandinsky 1912 im Alma nach<br />

Der Blaue Reiter (Abb. S. 106), der mit seiner<br />

Mischung von Programmschriften, Bildern<br />

und literarischen Texten selbst zu einer Art<br />

<strong>Gesamtkunstwerk</strong> wurde, sein Konzept der<br />

»Bühnenkomposition«. Kurt Schwitters forderte<br />

1919 in einem Aufruf »An alle Bühnen<br />

der Welt« die »restlose Zusammenfassung<br />

aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung<br />

des <strong>Gesamtkunstwerk</strong>es«. 7 Schon fünf Jahre<br />

vorher versuchte Hugo Ball das Münchner<br />

Künstlertheater mit Hilfe von Malern und<br />

Kom ponisten wie Marc, Kandinsky, Klee und<br />

Schönberg radikal zugunsten einer dramatischen<br />

Vitalität umzubauen, die sich »zugleich<br />

in Tanz, Farbe, Mimus, Musik und Wort« 8<br />

entladen konnte.<br />

Hugo Ball verstand sein Konzept als »zugleich<br />

in die Zukunft und die Vergangenheit« gerichtet.<br />

In der Tat waren die Ideen des <strong>Gesamtkunstwerk</strong>s<br />

damals sowohl avantgardistisch<br />

als auch an fern zurückliegenden Ursprüngen<br />

der Kunstentwicklung orientiert. Gesellschaftliche<br />

und kulturelle Moder nisierungsprozesse,<br />

die durch Spezialisierung, Ausdifferenzierung<br />

und Konkurrenz gekennzeichnet sind, versuchte<br />

man durch Programme und Praktiken der<br />

Entdifferenzierung oder neuen Integration der<br />

Künste aufzuheben. Was »einst« vereint war,<br />

ist »heute« getrennt und soll künftig neu zusammengeführt<br />

werden – so das Postulat gleich<br />

zu Beginn des Bauhaus­Manifestes mit dem<br />

Walter Gropius im April 1919 seine seit 1910<br />

publi zierten Programme zusammenfasste:<br />

»Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der<br />

Bau! Ihn zu schmücken war einst die vornehmste<br />

Aufgabe der bildenden Künste, sie waren unablös<br />

liche Bestandteile der großen Baukunst. Heute<br />

stehen sie in selbstgenügsamer Eigenheit, aus der<br />

sie erst wieder erlöst werden können durch bewußtes<br />

Mit­ und Ineinanderwirken aller Werkleute<br />

untereinander. Architekten, Maler und Bildhauer<br />

müssen die vielgliedrige Gestalt des Baues in seiner<br />

Gesamtheit und in seinen Teilen wieder kennen<br />

und begreifen lernen« (s. S. 400). 9<br />

»Das <strong>Gesamtkunstwerk</strong>«, definiert ein Lexikonartikel,<br />

»beruht auf dem – die Autonomie<br />

der Einzelkünste widerrufenden – Prinzip<br />

der intermedialen Grenz überschreitung<br />

und intendiert eine Reintegration der<br />

Dar stellungsmittel von Dichtung, Musik,<br />

Schauspiel­, Tanz­ und bildender Kunst<br />

zu einer komplexen Ganzheit.« 10 Dem<br />

Kon zept der »Bühnenkomposition« (Kandinsky),<br />

des »Büh nenkunstwerks« (Lothar<br />

Schreyer), des »Baues« (Gropius) oder<br />

des »<strong>Gesamtkunstwerk</strong>es« (Schwitters)<br />

entsprachen damals kunstwissenschaftliche<br />

Entwicklungen, die 1917 das Aufsehen<br />

erregende Buch Oskar Walzels mit dem<br />

programmatischen Titel Wechselseitige Erhellung<br />

der Künste forcierte und die heute<br />

auch von der Intermedialitätsforschung<br />

wieder aufgegriffen werden. 11<br />

Unter Aspekten, Begriffen und Theorien neuerer<br />

Intermedialitätsforschung, 12 die sich nicht auf<br />

Untersuchungen technischer Medien beschränkt,<br />

sondern auch die unterschiedlichen Kunstarten<br />

und ihre Materialien als Medien begreift, ist der<br />

<strong>Expressionismus</strong> erst in jüngerer Zeit einigermaßen<br />

systematisch und umfassend analysiert<br />

worden. 13 Die Möglichkeiten, einzelne Künste auf<br />

andere zu beziehen, realisiert er auf vielfältige<br />

Arten. Der für die synästhetische Präsentation<br />

von <strong>Gesamtkunstwerk</strong>en bevorzugte Ort ist die<br />

Bühne, die Bühne des Kabaretts, des Varietés<br />

und vor allem des Theaters, später auch das Kino.<br />

Sprache, zumal die schriftliche, verliert auf der<br />

Bühne jene Dominanz, die sie in der literarischen,<br />

ganz auf den Buchdruck eingestellten Kultur des<br />

19. Jahrhunderts hatte. Die im neuzeitlichen Zivilisationsprozess<br />

zurückgedrängte Mündlichkeit<br />

literarischer Kommunikation gewinnt gegenüber<br />

der Schriftlichkeit wieder an Gewicht.<br />

02_Anz_V2.indd 52 08.10.2010 11:45:31 Uhr

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