10.12.2012 Aufrufe

Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe

Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe

Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Für Walter Schatzberg,<br />

zum 80sten<br />

Ein kleiner Korpus von Filmen, gerade<br />

ein mal ein halbes Dutzend, entstanden<br />

zwischen 1919 und 1924, von denen nur einer<br />

– Das Cabinet des Dr. Caligari – beim<br />

deutschen wie internationalen Publikum<br />

wirklich erfolgreich war, während ein anderer<br />

– Von morgens bis mitternachts –<br />

nach Fertigstellung und Zensurzulassung<br />

gar nicht erst in die deutschen Kinos kam:<br />

Kann man da wirklich vom expressionistischen<br />

Film als paradigmatisch für das<br />

Weimarer Kino sprechen?<br />

Im Folgenden soll versucht werden, einige Ansätze<br />

der Rezeptionsgeschichte und der Forschung<br />

für die Beantwortung der Frage nutzbar zu machen,<br />

warum dieser kleine Filmkorpus so sehr<br />

den Nerv der Zeit getroffen haben mag, dass er<br />

als stilbildend für eine ganze Epoche angesehen<br />

werden konnte. 1 Robert Wienes Das Cabinet des<br />

Dr. Caligari (1919 / 20) soll in diesem Zusammenhang<br />

als beispielhaft für den gesamten Korpus<br />

analysiert werden. Dafür scheint es angebracht,<br />

Caligari separat unter den Aspekten der Filmindustrie,<br />

der praktischen Produktion und des<br />

Publikums zu durchleuchten.<br />

Industrie<br />

Während des Ersten Weltkriegs hatte die deutsche<br />

Filmindustrie den heimischen Markt für<br />

sich gewonnen und als Folge zahlreicher Firmen<br />

neugründungen eine nie gekannte Überpro<br />

duk tion an Filmen geschaffen. Es mussten<br />

Strate gien her, die geeignet waren, einzelne<br />

Filmpro duk tionen für das Publikum unterscheidbar<br />

zu machen. Hierzu gehörte sowohl die Produkt<br />

differenzierung als auch die Produktnobilitierung,<br />

in der Hoffnung, ein neues, bildungsbürgerliches<br />

Zielpublikum anzusprechen. Vor<br />

dem Weltkrieg hatte die Industrie schon einmal<br />

systematische Versuche unternommen, kulturell<br />

ansprechende Filme zu produzieren. Durch<br />

die Verpflichtung namhafter Literaten als Drehbuchautoren<br />

und bekannter Theaterschauspieler<br />

sollte die kulturelle Lücke zwischen Theaterbühne<br />

und Filmleinwand geschlossen werden.<br />

Der sogenannte »Auto renfilm« bezog sich stofflich<br />

entweder auf zeitgenössische Theater­ und<br />

Bühnenliteratur (etwa Paul Lindaus Der Andere,<br />

1913 von Max Mack mit Albert Bassermann in<br />

der Haupt rolle verfilmt) oder allgemeiner auf<br />

die Traditionen der deutschen Schauerromantik,<br />

wie etwa Stellan Ryes Der Student von<br />

Prag (ebenfalls 1913), mit Paul Wegener in der<br />

Titelrolle.<br />

Exakt die gleiche Strategie verfolgte<br />

auch ein großes Segment der deutschen<br />

Nachkriegsfilmproduktion. Während jedoch<br />

die konventionellen Gesellschaftsmelodramen<br />

fast ausschließlich Bilder<br />

gehobener Sozialschichten transportierten<br />

und einem vorwiegend kleinbür gerlichen<br />

Publikum zur Identifikation an ­<br />

boten, lag es nahe, dass die stärker literarischen<br />

Traditionen sich auch in der<br />

visuellen Stilisierung mit künstlerisch<br />

anerkannten Modellen verbinden sollten.<br />

306 Der deutsche <strong>Expressionismus</strong>, sowohl<br />

in der Malerei als auch auf der Theaterbühne<br />

eine viel diskutierte Avantgarde­<br />

Richtung, schien in diesem Zusammenhang<br />

geeignet, kulturbürgerliche Bil­<br />

dungsschichten anzusprechen, die dem<br />

Kino bis dato eher reserviert gegenübergestanden<br />

hatten. Das modernste<br />

Mas senkommunikationsmedium – so die<br />

Hoffnung – konnte auf diese Weise eine<br />

Brücke zu der modernsten Kunstströmung<br />

schlagen und die kulturelle Wertschätzung<br />

der Letzteren auf sich ziehen.<br />

<strong>Expressionismus</strong> war in diesem Kontext<br />

eher im Sinne eines werbetechnischen<br />

Vereinzelungsarguments zu verstehen,<br />

das die Produktdifferenzierung für den<br />

prospektiven Zuschauer erleichterte.<br />

Dass es der Industrie in diesem Zusammenhang<br />

nicht unbedingt um die Etablierung eines<br />

neuen Genres zu tun war, sondern in der Tat<br />

nur um die Nobilitierung ihres Produkts, lässt<br />

sich zum Beispiel daran ablesen, dass 1923 die<br />

neu gegründete Neumann­Filmproduktion, die,<br />

nebenbei bemerkt, das napoleonische »N« zu<br />

ihrem Firmenlogo machte, den Einstieg in die<br />

ambitionierte Filmproduktion mit zwei Filmen<br />

begann, die auf höchst unter schiedliche Weise<br />

auf ihre Einzigartigkeit auf merksam machten:<br />

Für Raskolnikow (1923) wurde mit Robert<br />

Wiene nicht nur der Regisseur des Caligari<br />

engagiert, sondern mit dem Architekten Andrej<br />

Andrejew auch ein Set­Designer, der sich<br />

ab 1917 als Ausstatter bei Max Reinhardt einen<br />

Namen gemacht hatte, und der den Film<br />

expres sionistisch ausstattete. Darüber hinaus<br />

verpflichtete die Neumann­Produktion das<br />

Ensemble des renommierten Moskauer Künstlertheaters,<br />

das sich gerade auf Gastspiel in<br />

Berlin aufhielt und dessen Darstellungsstil in<br />

der Filmwerbung als dem Dostojewski­Stoff<br />

besonders angemessen angepriesen wurde.<br />

Noch im selben Jahr brachte die Neumann­Produktion<br />

mit I. N. R. I. (1923) ihren zweiten Großfilm<br />

auf den Markt. Das Nobilitierungsargument<br />

war dieses Mal die Grandiosität der Filmsets, die<br />

in dem ehemaligen Luftschiffhangar in Staaken,<br />

einem westlichen Stadtteil Berlins, in überwältigender<br />

Größe aufgebaut werden konnten. Dies<br />

und die beeindruckenden Massenszenen sowie<br />

der biblische Stoff, der obendrein zu Weihnachten<br />

1923 in die Kinos gebracht wurde, sorgte für<br />

eine lebhafte Berichterstattung in der Fachpresse<br />

und den Tageszeitungen. So gesehen war die expressionistische<br />

Stilisierung Caligaris eine von<br />

mehreren Strategien, um Filme als Kunstwert an<br />

den Mann zu bringen.<br />

Filmproduktion<br />

Leider sind nur wenige fundierte Beschreibungen<br />

der Produktionshintergründe Caligaris<br />

erhalten, allesamt Rückerinnerungen<br />

von Beteiligten, Jahrzehnte nach den Geschehnissen.<br />

Hermann Warm, Hausarchitekt<br />

der Decla­Filmgesellschaft, erzählt,<br />

dass ihm der Auftrag zur Dekoration dieses<br />

Projekts von Rudolf Meinert übertragen<br />

worden sei. Er habe sofort erkannt, »daß<br />

man hier in Formgebung und Gestaltung der<br />

Dekorationen ganz von der sonst üblichen<br />

naturalistischen Art abweichen mußte«. 2<br />

Zusammen mit seinen Freunden Walter<br />

Reimann und Walter Röhrig habe er Vorstellungen<br />

entwickelt, bei denen sich Reimann<br />

mit seiner Ansicht durchgesetzt habe,<br />

»daß dieses Thema eine expressionistische<br />

Ausdrucksform für Dekor, Kostüm, Schauspieler<br />

und Regie haben müsse«. 3<br />

Reimann fertigte Entwurfsskizzen an, von<br />

denen einige überliefert sind. 4 Regisseur<br />

Robert Wiene habe sich sofort für die<br />

»Durchführung dieses Stils« ausgesprochen,<br />

während die beiden Autoren, Carl<br />

Mayer und Hans Janowitz, »diese Art<br />

der Formgebung [...] nicht sanktioniert« 5<br />

hätten. Entsprechend hätten sie »sich nie<br />

während der Vorbereitungen oder der<br />

Dreharbeiten im Atelier gezeigt oder an<br />

Besprechungen teilgenommen«. 6 Demgegenüber<br />

hätten die Maler als Kollektiv<br />

gearbeitet, das sich die Urheberschaft der<br />

Dekors teilte.<br />

Hans Janowitz, einer der beiden Drehbuchautoren,<br />

hat in den 1940er­Jahren<br />

das Manuskript Caligari. The Story of a<br />

Famous Story verfasst, das zur Haupt­<br />

quelle für Siegfried Kracauers politische<br />

Interpretation geworden ist, und<br />

das Janowitz offensichtlich in den<br />

1950er­Jahren noch einmal überarbeitet<br />

hat. 7 Darin erklärt er, die beiden<br />

Autoren hätten für die Dekorationsentwürfe<br />

Alfred Kubin vorgeschlagen. Nur<br />

durch ein Missverständnis habe die<br />

Produk tionsfirma sich für eine expressionistische<br />

Gestaltung entschieden.<br />

Eine Handlung, die von den Autoren als Kritik<br />

an der staatlichen Autorität verstanden<br />

sein wollte, die einen Weltkrieg vom Zaun<br />

gebrochen und junge Menschen in den Tod<br />

geschickt habe, sei durch die Hinzufügung<br />

einer Rahmenhandlung in ihr Gegenteil verkehrt<br />

und zum Hirngespinst eines Wahnsinnigen<br />

umgedeutet worden. Janowitz macht vor<br />

allem Regisseur Wiene dafür verantwortlich:<br />

»Dr. Wiene, ein Mann Anfang der Fünfziger,<br />

aus einer älteren Generation also als der unseren,<br />

scheute davor zurück, sich auf diese<br />

neuartige expressionistische Kunstform einzulassen.«<br />

8 Die beiden Autoren hätten vehement<br />

gegen die Einführung der Rahmenhandlung<br />

protestiert; nur Julius Sternberg<br />

habe sie von einer Klage abhalten können.<br />

Es ist also nicht die formale Gestaltung des Films<br />

in expressionistischer Manier, die Janowitz’ Ärger<br />

provozierte, obwohl Mayer und er doch andere<br />

Pläne verfolgt haben wollen, sondern eine Verkehrung<br />

angeblicher Autorenintentionen. Das<br />

Pre mierenpublikum sei allerdings von dem Film,<br />

so wie er gedreht und gezeigt worden war, gepackt<br />

worden; es seien gar einige Frauen während<br />

der Vorführung ohnmächtig geworden. Die<br />

Decouvrierung Caligaris als wahnsinniger Direktor<br />

eines Irrenhauses sei daher vom Publikum<br />

erleichtert aufgenommen worden: »Dies bedeutete<br />

den Höhepunkt unserer hochdramatischen<br />

Geschichte. Doch Dr. Wienes Rahmenhandlung<br />

stellte noch eine weitere Klimax dar, durch die<br />

Erläuterung, die gesamte Tragödie des Dr. Caligari<br />

sei gar nicht real, sondern lediglich Ausgeburt<br />

der Fantasie eines Geistesgestörten! Dieser<br />

dramaturgische Kniff, so gefahrvoll er auch war,<br />

konnte allerdings die Faszination und Spannung<br />

nicht beeinträchtigen, die die von uns erfun dene<br />

11_Jung_V2.indd 306 09.10.2010 14:26:40 Uhr

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!