Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe
Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe
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Töne nacheinander erklingen, während die<br />
Krieger »mit vorgestreckten Stangen und<br />
Lichtern« die Bühne heraufkriechen.<br />
Klanglich völlig entgegengesetzt komponiert<br />
Hinde mith das »weibliche Prinzip«: Zum Auftritt<br />
des Gefolges der Frau wandelt sich der<br />
Orchestersatz in einen weichen, leicht fließenden<br />
Streicherklang, über dem sich ein ausdrucksvolles<br />
liedhaftes Thema dahinwindet.<br />
Violinen schwelgen in Terzenseeligkeit wie in<br />
einer Idylle aus längst vergangenen Zeiten. Beständige<br />
dynamische Intensivierungen, Steigerungen<br />
bis zum dreifachen Forte, die dann<br />
plötzlich abreißen, um nur wieder von Neuem<br />
zu beginnen, geben der Musik einen unaufhaltsamen<br />
Drang. Zugleich zeigt sich überall<br />
ein ähnliches Verhältnis von Szene und Musik:<br />
Zwar korrespondieren vereinzelt Gebärden<br />
mit musikalischen Figuren, insgesamt werden<br />
Bühnenaktionen und Gesten aber kaum direkt<br />
musikalisch illustriert. Stattdessen ist das szenische<br />
Geschehen, der grundlegende Konflikt<br />
zwischen den beiden widerstrebenden Mächten,<br />
im Dualismus beider Themen präsent.<br />
Eine andere, weitaus psychologischer ausgerichtete<br />
musikdramatische Konzeption dieser konfliktträchtigen<br />
Gespaltenheit menschlicher Existenz<br />
zeigen die beiden Vertonungen von Büchners<br />
Woyzeck durch Alban Berg und Manfred Gurlitt.<br />
Der Fall Wozzeck<br />
Drei tiefe, dissonierende Akkorde in den Blechbläsern,<br />
über denen rasche, flüchtige Figuren der<br />
Oboen aufblitzen, verbreiten gleich zu Beginn<br />
der zweiten Szene eine unheimliche Atmosphäre.<br />
Draußen vor der Stadt auf einem Feld schneiden<br />
Wozzeck und Andres Stöcke im Gebüsch.<br />
Wozzeck leidet unter apokalyptischen Halluzinationen<br />
(»Du, der Platz ist verflucht«), sein Freund<br />
Andres stimmt indessen ein lustiges Lied von<br />
der Jägerei an (»Das ist die schöne Jägerei«).<br />
Hart kontrastieren der volksliedartige Text und<br />
die durch unmelodische Quartsprünge verzerrte<br />
Melodie. Auch wenn der Umriss des einfachen<br />
Liedes vertraut wirkt, scheint dies musikalische<br />
Gebilde mit seiner »falschen Melodie« über der<br />
Begleitung aus tonal nicht zuordenbaren, übermäßigen<br />
Akkorden wie die Welt Wozzecks völlig<br />
aus den Fugen geraten. Gegen Andres Gesang<br />
hebt sich Wozzecks Stimme wirkungsvoll ab.<br />
Er singt nicht, sondern verfällt während seiner<br />
Visio nen in ein tonhöhengebundenes Sprechen.<br />
Um durch alle möglichen Schattierungen von<br />
Flüstern und Sprechen eine höhere Ausdrucksintensität<br />
und -vielfalt zu erreichen, verwendet<br />
Berg hier die sogenannte »Sprechstimme«, wie<br />
sie erstmals von Arnold Schönberg in Die glückliche<br />
Hand und seinem Liedzyklus Pierrot lunaire<br />
(1912) eingesetzt wurde.<br />
Berg führt in dieser zweiten Szene den drohenden<br />
Wahnsinn seines Protagonisten klar<br />
vor Augen. Sein weiteres Schicksal ergibt sich<br />
geradezu zwangsläufig aus diesem Beginn: Gedemütigt<br />
von seinem Hauptmann, misshandelt<br />
von einem sadistischen Arzt, der ihn für seine<br />
medizinischen Versuche missbraucht, und verraten<br />
von seiner Geliebten Marie, die ihn mit<br />
dem Tambour major betrügt, kann er Wahn und<br />
Wirklich keit nicht mehr auseinanderhalten. Das<br />
Opfer Wozzeck wird unvermeidlich zum Täter.<br />
Er tötet seine Geliebte und bringt sich anschließend<br />
im nahe gelegenen See um.<br />
Die Figur Wozzecks ermöglicht Berg eine Musik,<br />
die alle dynamischen Extreme ausschöpft. Die<br />
abrupten Stimmungswechsel des Protagonisten<br />
korrespondieren mit einem raschen Umschlag<br />
der Musik von Piano ins Fortissimo und zurück.<br />
Anschaulich »malt« die Musik seine Visionen,<br />
wenn zu der Textpassage »Es tut sich ein Schlund<br />
auf« das Orchester zunächst in einem Riesenglissando<br />
ansteigt, um sich dann in die Tiefe<br />
zu stürzen.<br />
Abgesehen von diesen Korrespondenzen an<br />
der klanglichen »Oberfläche«, hebt Berg in<br />
seinem Einführungsvortrag zu der Oper hervor,<br />
dass jede dieser Szenen auf einer alten,<br />
instrumentalen Form basiert. So liegt etwa der<br />
ersten Szene, dem Gespräch zwischen Hauptmann<br />
und Wozzeck, eine Suite zugrunde, andere<br />
Szenen verlaufen als Rondo oder Passacaglia,<br />
und der gesamte zweite Akt ist eine<br />
Symphonie in fünf Sätzen. Ergeben hatte sich<br />
diese Notwendigkeit für Berg zunächst durch<br />
den fragmentarischen Charakter des Dramas,<br />
das Georg Büchner, als er 1837 im Alter von<br />
nur 23 Jahren starb, unvollendet hinterließ. Da<br />
der Text daher wenig Zusammenhang stiftend<br />
wirken konnte, sah sich Berg mit der Herausforderung<br />
konfrontiert, diesen vor allem durch<br />
die Musik zu gewährleisten. Das Komponieren<br />
umfangreicherer Werke war aber gerade wenige<br />
Jahre zuvor durch den Verzicht auf die<br />
Tonalität und damit »auf eines der stärksten<br />
und bewährtesten Mittel, kleine, aber auch<br />
ganz große Formen zu bilden«, 12 schwieriger<br />
geworden. Indem Berg nun die einzelnen Szenen<br />
als instrumentale Formen konzipiert, gelingt<br />
es ihm, der Musik einen »Außenhalt« zu<br />
geben und so einen Ausweg aus diesem Dilemma<br />
zu finden.<br />
Büchners Text basiert auf einer wahren Begebenheit:<br />
1821 tötet der arbeitslose Soldat und<br />
Perückenmacher Johann Christian Woyzeck in<br />
Leipzig seine Geliebte. Trotz deutlicher Anzeichen<br />
von Gemütsverwirrung wird er von einem<br />
Arzt als zurechnungsfähig eingestuft und schließlich<br />
gehenkt. In Charakteren wie Woyzeck,<br />
der die traumatischen Erfahrungen der Weltkriegsgeneration<br />
in sich bündelt, sahen die Expressionisten<br />
einen Wahlverwandten. Außerdem<br />
begeisterte sie Büchner als politischer Dichter:<br />
Als »sozialistischen Revolutionär« feierte ihn<br />
Kurt Pinthus, und Julius Bab beschwor »die leidenschaftliche<br />
Empörung des Dichters gegen<br />
diese Welt, die die Seelen erstarren lässt«. 13<br />
Für Alban Berg war es wohl weniger dieser<br />
allgemeine politische Hintergrund als vielmehr<br />
die konkrete biografische Erfahrung im Ersten<br />
Weltkrieg, die ihn zu Büchners Stück greifen<br />
ließ, nachdem er es 1914 in einer Inszenierung<br />
in Wien gesehen hatte: »Steckt doch auch ein<br />
Stück von mir in seiner Figur«, schrieb er am<br />
7. August 1918 an seine Frau, »seit ich ebenso<br />
abhängig von verhaßten Menschen, gebunden,<br />
kränklich, unfrei, ja gedemütigt diese Kriegsjahre<br />
verbringe.« 14<br />
Als Bergs Wozzeck am 14. Dezember 1925<br />
in der Berliner Staatsoper zur Uraufführung<br />
kommt, wird das sperrige Werk ein<br />
beispielloser Erfolg. 15 Nachdem es zunächst<br />
jahrelang als unspielbar abgelehnt<br />
worden war, erreichte es in der Zeit zwischen<br />
1925 und 1933 17 Neuproduktionen,<br />
zum Teil sogar in kleinen Provinzhäusern –<br />
bis heute gehört Wozzeck zu den ganz wenigen<br />
Opernwerken des 20. Jahrhunderts,<br />
die sich zwischen Zauberflöte und Aida im<br />
Opernspielplan halten können.<br />
Zur Zeit der Berliner Uraufführung arbeitete<br />
noch ein anderer an der Vertonung von Büchners<br />
Fragment: der Komponist und Diri gent<br />
Manfred Gurlitt. Nur vier Monate nach der Berliner<br />
Premiere kam sein Wozzeck in Bremen<br />
heraus, wo Gurlitt seit 1924 als Generalmusikdirektor<br />
tätig war. Im Schatten des bergschen<br />
Meisterwerks gelang ihm eine erfolgreiche<br />
Ur aufführung. Doch bereits nach einer zweiten<br />
Inszenierung in Mainz zwei Jahre später<br />
verschwand der »zweite Wozzeck« in der Versenkung,<br />
aus der er erst in den 1980er-Jahren<br />
im Zuge der Bemühungen um die Exilmusik<br />
wieder zurückkehrte. 16<br />
Anders als Berg rückt Gurlitt den fragmentarischen<br />
Charakter des Textes stärker ins Zentrum<br />
seiner Vertonung: 18 Szenen und ein Epilog reihen<br />
sich lose aneinander, ohne wie bei Berg durch<br />
»Verwandlungsmusiken« oder eine musikalische<br />
Gesamtform miteinander verbunden zu sein. Der<br />
Chor (»Wir armen Leut«) rahmt das Werk ein<br />
und streicht so den sozialkritischen Gehalt des<br />
Stoffes hervor. Besonders markant gestaltet ist<br />
die Szene mit Wozzecks Visionen. Zwar verharren<br />
sowohl Andres wie auch Wozzeck in einem<br />
deklamato rischen Gesangsstil, grundiert ist die<br />
Szene jedoch durch ein hohes, flimmerndes Streichertremolo,<br />
das nur durch einzelne Schläge des<br />
Klaviers kurz unterbrochen wird. Mit dieser nervös<br />
vibrierenden Klangfläche hat Gurlitt ein ausdrucksstarkes<br />
akustisches Zeichen für Wozzecks<br />
zerrütteten Gemütszustand gefunden.<br />
Versuche, dieser unter anderem von<br />
Kokoschka, Hindemith, Berg und Gurlitt<br />
thematisierten traumatischen Welterfahrung<br />
eine Utopie von Einheit und<br />
Synthese der Künste in der ästhetischen<br />
Praxis entgegenzusetzen, gehen<br />
bereits auf die Vorkriegszeit zurück.<br />
Die Sehnsucht nach Einheit<br />
Experimente und Aufbruch<br />
Wassily Kandinsky hatte mit seinem Bühnenszenario<br />
mit dem programmatischen<br />
Titel Der gelbe Klang (erstmals publiziert<br />
1912) die synästhetische Transformation<br />
von Farben und Gestaltempfinden in Klänge<br />
und umgekehrt versucht. Er entdeckte hierin<br />
Gemeinsamkeiten zu Arnold Schönberg:<br />
»Sie haben in Ihren Werken das verwirklicht,<br />
wonach ich in freilich unbestimmter<br />
Form in der Musik so eine große Sehnsucht<br />
hatte«, schreibt Kandinsky 1911 an Schönberg.<br />
»Das selbständige Gehen durch eigene<br />
Schicksale, das eigene Leben der<br />
einzelnen Stimmen in Ihren Compositionen<br />
ist gerade das, was auch ich in malerischer<br />
Form zu finden versuche.« 17 Die gemeinsamen<br />
Bestrebungen gipfelten schließlich in<br />
Schönbergs Beiträgen zum Almanach Der<br />
Blaue Reiter (1912; Abb. S. 106), einem <strong>Gesamtkunstwerk</strong><br />
in Buchform, in dem neben<br />
seinem programmatischen Aufsatz »Das<br />
Ver hältnis zum Text« auch seine Komposition<br />
Herzgewächse (Text: Maurice Maeterlinck)<br />
für Sopran, Celesta, Harmonium und<br />
Harfe publiziert wurde.<br />
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