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Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe

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174<br />

Das expressionistische Theater war realisiertes<br />

<strong>Gesamtkunstwerk</strong> im szenischen<br />

Raum und blieb keine »U-topie« im Sinne<br />

des Wortes wie bei Richard Wagner,<br />

dessen bildliche Ausstattung in keiner<br />

Weise der Zukunftsmusik entsprach.<br />

Die expressionistische Szene war kein<br />

»Nichtort« mehr, denn zum ersten Male<br />

setzte sich im 20. Jahrhundert die Vereinigung<br />

der Einzelkünste in der Heterotopie<br />

des Theaters längerfristig um. Die<br />

bereits gedanklich entworfene Ideologie<br />

wurde auf dieser jungen Bühne, auf der<br />

sich die Addition der spezifischen Kunstmittel<br />

zur komplementären Synthese<br />

formte, zur Tat. Wie Wagner sahen auch<br />

die expressionistischen Dramatiker ihre<br />

Werke im Range geschichtlicher Notwendigkeit<br />

und setzten sie als heilige<br />

Artefakte ins Absolute. Sie misstrauten<br />

den perfektionierten technischen Mitteln<br />

der damaligen Bühne: Der Mensch, das<br />

Leben wurden nach gründlicher Konstatierung<br />

der entfremdeten, historischen<br />

Situation in den Kunstmittelpunkt gesetzt,<br />

auf der Suche nach der Restitutio<br />

Hominis. Sendungsbewusst formulierte<br />

der Dramatiker Georg Kaiser: »Das Gesetz<br />

der Kunst (<strong>Expressionismus</strong>) wurde<br />

in dieser Jetztzeit erstmalig stabilisiert.« 1<br />

<strong>Expressionismus</strong> und Kunst – das war<br />

eins. In dieser Unbedingtheit lag die<br />

Selbstverständlichkeit der neuen Enthierarchisierung<br />

und der einer Idee unterstellten<br />

Funktion sämtlicher Einzelkünste<br />

begründet. Defizite des Ideals vom wagnerschen<br />

<strong>Gesamtkunstwerk</strong> wurden eliminiert,<br />

etwa die Dominanz der Musik<br />

oder die Nichtachtung der tänzerischen<br />

Bewegung, denn der expressionistische<br />

Wort-Schauspieler verfügte über die<br />

tänzerische Gebärde, und seine Sprache<br />

war im Klanghaften musikalisiert.<br />

Die Ordnungsmacht blieb trotzdem auch<br />

im expressionistischen Theater eine<br />

Pri mär kunst: Bei Wagner war es die<br />

Musik, bei den Expressionisten das Wort.<br />

Diese vermochten es, die räumliche<br />

Qualität dem Rang des Ausgangskunstwerks<br />

– des Wortdramas – anzupassen.<br />

Die Künstler aus dem Sturm-Kreis,<br />

wie bei spielsweise Lothar Schreyer, der<br />

mensch liche Aussage zur Kunstaussage<br />

formte und damit die dramatische Dichtung<br />

zurückdrängte, gingen theoretisch<br />

wie werkkünstlerisch einen Sonderweg<br />

des theatralen <strong>Expressionismus</strong>: Der<br />

Schau spieler wurde so zum Erfüllungsgehilfen<br />

und Kunstmittel degradiert, und<br />

selbstreferenzielle Bühnensynthese war<br />

hier gewünscht. Eine solche Autonomie<br />

erreichte der Kunstraum des wortbasierten<br />

<strong>Expressionismus</strong> nicht, obwohl er<br />

von einer eigenen ästhetischen Gesetzlichkeit<br />

geprägt war. Ganz im Gegenteil:<br />

Kurt Pinthus stellte 1919 über die Kunst<br />

fest: »Es geht ihr nicht um Kunstfertigkeit<br />

– sondern um den Willen [...]. Diese<br />

Kunst wird also allenthalben das Ästhetische<br />

zersprengen.« 2 Der Wunsch nach<br />

Totalität, der jedem <strong>Gesamtkunstwerk</strong><br />

zugrunde liegt, bekam jetzt eine totalitäre<br />

Färbung mit dekonstruktivistischer Verve:<br />

in der Simplifizierung der Zeichen,<br />

der Übersteigerung ins Groteske, der<br />

unschönen Bretterästhetik, der ortlosen<br />

Bühne, der direkten, antiillusionistischen<br />

Bühnenmittel. Das Axiom der Naturwahrheit<br />

sowie der Formschönheit wurde bewusst<br />

vernachlässigt. Erst spät – viele<br />

Dramen waren längst geschrieben – fand<br />

das expressionistische Drama auf die<br />

Bühne: Max Reinhardt inszenierte am<br />

23. Dezember 1917 Reinhard Johannes<br />

Sorges prototypisches Protagonistendrama<br />

Der Bettler mit Ernst Deutsch<br />

in der Hauptrolle als Uraufführung im<br />

Deutschen Theater in Berlin. In Frankfurt<br />

präsentierte wenig später ein junges<br />

Team um den Direktor Carl Zeiß, den<br />

Regisseur Richard Weichert und den<br />

Bühnenbildner Ludwig Sievert entsprechende<br />

Stücke im neuen Stil: Expressiv<br />

erscheint 1920 Sieverts Raumlösung für<br />

Kleists Penthesilea (Abb. S. 330), denn in<br />

diesen Einheitsschauplatz war förmlich<br />

der Blitz gefahren: ein plastischer Bühnenaufbau,<br />

der die Akteure durch die<br />

Schrä gen in ihrer Bewegung dynamisierte.<br />

Regis seure wie Weichert, der 1918<br />

künstlerischer Leiter des Schauspiels in<br />

Frankfurt wurde, sorgten dafür, dass der<br />

<strong>Expressionismus</strong> im Sinne eines <strong>Gesamtkunstwerk</strong>s<br />

stilistisch gebunden blieb.<br />

Solche Qualitätssicherung führte auch<br />

dazu, dass man vom »Frankfurter« oder<br />

»Darmstädter <strong>Expressionismus</strong>« sprach;<br />

in Darmstadt setzte nämlich Gustav Hartung<br />

ab 1920 als Intendant expressionistische<br />

Glanzpunkte. Die Provinz war<br />

diesbezüglich meist weiter als die Metropole<br />

Berlin. Von August Strindberg, einem<br />

dem <strong>Expressionismus</strong> vorangegangenen<br />

Dramatiker eines Wandlungs- und<br />

Passionsdramas, wurde 1923 Die große<br />

Landstraße am Schauspiel Frankfurt gespielt,<br />

und Sievert erfand einen Raum mit<br />

einem un gewöhnlich hohen Fluchtpunkt<br />

und stürzenden Häusern in deutlicher<br />

Verzerrung (Abb. 1). Eine derartig steile<br />

Büh nenschräge entwickelte Sievert als<br />

Erster für die Theaterbühne.<br />

Mörder, Hoffnung der Kunst<br />

Der Maler Oskar Kokoschka bewies eine erstaunliche<br />

Doppelbegabung und schrieb bereits 1907<br />

einen explizit expressionistischen, chorisch-oratorischen<br />

Einakter, Mörder, Hoffnung der Frauen,<br />

in dem der Geschlechterkampf ekstatisch abgehandelt<br />

wird. Die Uraufführung fand 1909 in<br />

Wien statt und verursachte einen Skandal: Das<br />

Triebhafte und Exzessive verstörte. Die bildhafte<br />

Dichtung näherte sich den Wortkunstwerken eines<br />

August Stramm, und der Künstler Kokoschka<br />

selbst realisierte 1917 das Bühnenbild bei der Aufführung<br />

in Dresden, bei der er auch Regie führte.<br />

Der Dichter Walter Hasenclever hatte damals<br />

seinen Einfluss genutzt, um die Realisierung von<br />

drei Kokoschka-Stücken am Albert-Theater zu<br />

ermöglichen; auch aus diesem Grund verband<br />

beide eine tiefe Freundschaft. Zu dem Kreis der<br />

Dresdner Expressionisten gehörten unter anderen<br />

die Schauspieler Ernst Deutsch, Heinrich<br />

George, Paul Wegener sowie Käthe Richter.<br />

Kokoschka bildete 1917 Mitglieder dieses Verbundes<br />

von Seelenverwandten in seinem berühmten<br />

Gemälde Die Freunde ab. Der Szenenentwurf<br />

von Ludwig Sievert zu der Frankfurter Inszenierung<br />

aus dem Jahr 1922 – Paul Hindemith hatte<br />

1919 das auf eine Musikalisierung angelegte Werk<br />

Kokoschkas vertont – zeigt eine monumentale<br />

Turmarchitektur auf ansteigender Schräge, deren<br />

Verweis auf das weibliche Geschlechtsteil, aber<br />

auch die Wunde, die die Frau dem Mann in die<br />

Seite schlägt, unübersehbar ist (Abb. S. 273). Die<br />

von Kokoschka niedergeschriebene expressionistische<br />

Brutalisierung des Inspirationsdramas<br />

Penthesilea von Kleist wird im Raum greifbar:<br />

Die Atmosphäre der Erregung schlägt sich in der<br />

roten Farbe nieder, aber das Rot ist auch Zeichen<br />

des verletzenden Eisens. Antagonistisch<br />

sind Männer- und Frauenkollektiv blockhaft-choreografisch<br />

angeordnet. Das entsprach dem Text,<br />

der sich ohne Nuancen oder Valeurs ganz auf den<br />

Dualismus Mann–Frau verließ.<br />

Theaterfilm<br />

Von morgens bis mitternachts<br />

Wie Ernst Tollers Wandlung ist Georg Kaisers<br />

bereits 1912 geschriebenes Werk Von morgens<br />

bis mitternachts ein Stationendrama. Im Fokus<br />

des Stückes steht der Leidensweg eines<br />

Kassierers. Die revuehafte Abfolge der Bilder<br />

und die allseits bekannten Großstadtorte wie<br />

Sportpalast, Ballhaus oder Bank kamen einer<br />

filmischen Adaption sehr entgegen, und das<br />

Stakkato der Texthandlung entsprach dem<br />

inter ruptiven Montage-Denken. Der expressionistische<br />

Modus der partiellen Ausleuchtung<br />

der Bühne simulierte Kameraeinstellungen,<br />

die nur einen Teil des Spielraumes sichtbar<br />

machten. Der letzte Schauplatz im ersten Teil<br />

der Stückes war als Ort des großen Monologes<br />

besonders »expressionistisch, visionär,<br />

im Stil von Franz Marc, an dessen Bilder allein<br />

schon die ›blauschattene Sonne‹ erinnert«. 3<br />

Am Ende tötet sich der Kassierer im Lokal der<br />

Heilsarmee vor einem Vorhang, auf den ein<br />

Kreuz aufgenäht ist (Abb. 2). Dieses Drama<br />

– ein Beispiel für die Kinofizierung des Theaters<br />

– war in den 1920er-Jahren sehr häufig<br />

auf geführt worden und bot sich mit seinen<br />

Ort- und Handlungssensationen dem Film, in<br />

dem dann Ernst Deutsch, der stilbildende expressionistische<br />

Theaterdarsteller, die Hauptrolle<br />

spielte, als Stoff an. Der Regisseur des<br />

Films, Karlheinz Martin, war ebenso ein Theatermann<br />

wie der Ausstatter Robert Neppach.<br />

In dem 1914 herausgegebenen Kinobuch von<br />

Kurt Pinthus veröffentlichten expressionistische<br />

Auto ren wie Walter Hasenclever oder<br />

Else Lasker-Schüler wiederum Entwürfe für<br />

ein Drehbuch, und Hasenclever beschrieb 1913<br />

in seinem Essay Kintopp als Erzieher das neue<br />

Medium als Ort der Verheißung und Errettung,<br />

kongruent zu einer expressionistischen<br />

Ver kündigung im Drama – im gleichen Jahr<br />

begann er mit der Niederschrift seiner Bühnendichtung<br />

Der Sohn. Der zeitgenössische<br />

Stummfilm scheint auch in der Rückwirkung<br />

Inspiration für Bühnenschauplätze gewesen<br />

zu sein, etwa Robert Wienes Das Cabinet des<br />

Dr. Caligari für die Budenplätze im Entwurf von<br />

Johannes Schröder in Die echten Sedemunds<br />

06_Koehler_V2.indd 174 08.10.2010 20:11:42 Uhr

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