Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe
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Das expressionistische Theater war realisiertes<br />
<strong>Gesamtkunstwerk</strong> im szenischen<br />
Raum und blieb keine »U-topie« im Sinne<br />
des Wortes wie bei Richard Wagner,<br />
dessen bildliche Ausstattung in keiner<br />
Weise der Zukunftsmusik entsprach.<br />
Die expressionistische Szene war kein<br />
»Nichtort« mehr, denn zum ersten Male<br />
setzte sich im 20. Jahrhundert die Vereinigung<br />
der Einzelkünste in der Heterotopie<br />
des Theaters längerfristig um. Die<br />
bereits gedanklich entworfene Ideologie<br />
wurde auf dieser jungen Bühne, auf der<br />
sich die Addition der spezifischen Kunstmittel<br />
zur komplementären Synthese<br />
formte, zur Tat. Wie Wagner sahen auch<br />
die expressionistischen Dramatiker ihre<br />
Werke im Range geschichtlicher Notwendigkeit<br />
und setzten sie als heilige<br />
Artefakte ins Absolute. Sie misstrauten<br />
den perfektionierten technischen Mitteln<br />
der damaligen Bühne: Der Mensch, das<br />
Leben wurden nach gründlicher Konstatierung<br />
der entfremdeten, historischen<br />
Situation in den Kunstmittelpunkt gesetzt,<br />
auf der Suche nach der Restitutio<br />
Hominis. Sendungsbewusst formulierte<br />
der Dramatiker Georg Kaiser: »Das Gesetz<br />
der Kunst (<strong>Expressionismus</strong>) wurde<br />
in dieser Jetztzeit erstmalig stabilisiert.« 1<br />
<strong>Expressionismus</strong> und Kunst – das war<br />
eins. In dieser Unbedingtheit lag die<br />
Selbstverständlichkeit der neuen Enthierarchisierung<br />
und der einer Idee unterstellten<br />
Funktion sämtlicher Einzelkünste<br />
begründet. Defizite des Ideals vom wagnerschen<br />
<strong>Gesamtkunstwerk</strong> wurden eliminiert,<br />
etwa die Dominanz der Musik<br />
oder die Nichtachtung der tänzerischen<br />
Bewegung, denn der expressionistische<br />
Wort-Schauspieler verfügte über die<br />
tänzerische Gebärde, und seine Sprache<br />
war im Klanghaften musikalisiert.<br />
Die Ordnungsmacht blieb trotzdem auch<br />
im expressionistischen Theater eine<br />
Pri mär kunst: Bei Wagner war es die<br />
Musik, bei den Expressionisten das Wort.<br />
Diese vermochten es, die räumliche<br />
Qualität dem Rang des Ausgangskunstwerks<br />
– des Wortdramas – anzupassen.<br />
Die Künstler aus dem Sturm-Kreis,<br />
wie bei spielsweise Lothar Schreyer, der<br />
mensch liche Aussage zur Kunstaussage<br />
formte und damit die dramatische Dichtung<br />
zurückdrängte, gingen theoretisch<br />
wie werkkünstlerisch einen Sonderweg<br />
des theatralen <strong>Expressionismus</strong>: Der<br />
Schau spieler wurde so zum Erfüllungsgehilfen<br />
und Kunstmittel degradiert, und<br />
selbstreferenzielle Bühnensynthese war<br />
hier gewünscht. Eine solche Autonomie<br />
erreichte der Kunstraum des wortbasierten<br />
<strong>Expressionismus</strong> nicht, obwohl er<br />
von einer eigenen ästhetischen Gesetzlichkeit<br />
geprägt war. Ganz im Gegenteil:<br />
Kurt Pinthus stellte 1919 über die Kunst<br />
fest: »Es geht ihr nicht um Kunstfertigkeit<br />
– sondern um den Willen [...]. Diese<br />
Kunst wird also allenthalben das Ästhetische<br />
zersprengen.« 2 Der Wunsch nach<br />
Totalität, der jedem <strong>Gesamtkunstwerk</strong><br />
zugrunde liegt, bekam jetzt eine totalitäre<br />
Färbung mit dekonstruktivistischer Verve:<br />
in der Simplifizierung der Zeichen,<br />
der Übersteigerung ins Groteske, der<br />
unschönen Bretterästhetik, der ortlosen<br />
Bühne, der direkten, antiillusionistischen<br />
Bühnenmittel. Das Axiom der Naturwahrheit<br />
sowie der Formschönheit wurde bewusst<br />
vernachlässigt. Erst spät – viele<br />
Dramen waren längst geschrieben – fand<br />
das expressionistische Drama auf die<br />
Bühne: Max Reinhardt inszenierte am<br />
23. Dezember 1917 Reinhard Johannes<br />
Sorges prototypisches Protagonistendrama<br />
Der Bettler mit Ernst Deutsch<br />
in der Hauptrolle als Uraufführung im<br />
Deutschen Theater in Berlin. In Frankfurt<br />
präsentierte wenig später ein junges<br />
Team um den Direktor Carl Zeiß, den<br />
Regisseur Richard Weichert und den<br />
Bühnenbildner Ludwig Sievert entsprechende<br />
Stücke im neuen Stil: Expressiv<br />
erscheint 1920 Sieverts Raumlösung für<br />
Kleists Penthesilea (Abb. S. 330), denn in<br />
diesen Einheitsschauplatz war förmlich<br />
der Blitz gefahren: ein plastischer Bühnenaufbau,<br />
der die Akteure durch die<br />
Schrä gen in ihrer Bewegung dynamisierte.<br />
Regis seure wie Weichert, der 1918<br />
künstlerischer Leiter des Schauspiels in<br />
Frankfurt wurde, sorgten dafür, dass der<br />
<strong>Expressionismus</strong> im Sinne eines <strong>Gesamtkunstwerk</strong>s<br />
stilistisch gebunden blieb.<br />
Solche Qualitätssicherung führte auch<br />
dazu, dass man vom »Frankfurter« oder<br />
»Darmstädter <strong>Expressionismus</strong>« sprach;<br />
in Darmstadt setzte nämlich Gustav Hartung<br />
ab 1920 als Intendant expressionistische<br />
Glanzpunkte. Die Provinz war<br />
diesbezüglich meist weiter als die Metropole<br />
Berlin. Von August Strindberg, einem<br />
dem <strong>Expressionismus</strong> vorangegangenen<br />
Dramatiker eines Wandlungs- und<br />
Passionsdramas, wurde 1923 Die große<br />
Landstraße am Schauspiel Frankfurt gespielt,<br />
und Sievert erfand einen Raum mit<br />
einem un gewöhnlich hohen Fluchtpunkt<br />
und stürzenden Häusern in deutlicher<br />
Verzerrung (Abb. 1). Eine derartig steile<br />
Büh nenschräge entwickelte Sievert als<br />
Erster für die Theaterbühne.<br />
Mörder, Hoffnung der Kunst<br />
Der Maler Oskar Kokoschka bewies eine erstaunliche<br />
Doppelbegabung und schrieb bereits 1907<br />
einen explizit expressionistischen, chorisch-oratorischen<br />
Einakter, Mörder, Hoffnung der Frauen,<br />
in dem der Geschlechterkampf ekstatisch abgehandelt<br />
wird. Die Uraufführung fand 1909 in<br />
Wien statt und verursachte einen Skandal: Das<br />
Triebhafte und Exzessive verstörte. Die bildhafte<br />
Dichtung näherte sich den Wortkunstwerken eines<br />
August Stramm, und der Künstler Kokoschka<br />
selbst realisierte 1917 das Bühnenbild bei der Aufführung<br />
in Dresden, bei der er auch Regie führte.<br />
Der Dichter Walter Hasenclever hatte damals<br />
seinen Einfluss genutzt, um die Realisierung von<br />
drei Kokoschka-Stücken am Albert-Theater zu<br />
ermöglichen; auch aus diesem Grund verband<br />
beide eine tiefe Freundschaft. Zu dem Kreis der<br />
Dresdner Expressionisten gehörten unter anderen<br />
die Schauspieler Ernst Deutsch, Heinrich<br />
George, Paul Wegener sowie Käthe Richter.<br />
Kokoschka bildete 1917 Mitglieder dieses Verbundes<br />
von Seelenverwandten in seinem berühmten<br />
Gemälde Die Freunde ab. Der Szenenentwurf<br />
von Ludwig Sievert zu der Frankfurter Inszenierung<br />
aus dem Jahr 1922 – Paul Hindemith hatte<br />
1919 das auf eine Musikalisierung angelegte Werk<br />
Kokoschkas vertont – zeigt eine monumentale<br />
Turmarchitektur auf ansteigender Schräge, deren<br />
Verweis auf das weibliche Geschlechtsteil, aber<br />
auch die Wunde, die die Frau dem Mann in die<br />
Seite schlägt, unübersehbar ist (Abb. S. 273). Die<br />
von Kokoschka niedergeschriebene expressionistische<br />
Brutalisierung des Inspirationsdramas<br />
Penthesilea von Kleist wird im Raum greifbar:<br />
Die Atmosphäre der Erregung schlägt sich in der<br />
roten Farbe nieder, aber das Rot ist auch Zeichen<br />
des verletzenden Eisens. Antagonistisch<br />
sind Männer- und Frauenkollektiv blockhaft-choreografisch<br />
angeordnet. Das entsprach dem Text,<br />
der sich ohne Nuancen oder Valeurs ganz auf den<br />
Dualismus Mann–Frau verließ.<br />
Theaterfilm<br />
Von morgens bis mitternachts<br />
Wie Ernst Tollers Wandlung ist Georg Kaisers<br />
bereits 1912 geschriebenes Werk Von morgens<br />
bis mitternachts ein Stationendrama. Im Fokus<br />
des Stückes steht der Leidensweg eines<br />
Kassierers. Die revuehafte Abfolge der Bilder<br />
und die allseits bekannten Großstadtorte wie<br />
Sportpalast, Ballhaus oder Bank kamen einer<br />
filmischen Adaption sehr entgegen, und das<br />
Stakkato der Texthandlung entsprach dem<br />
inter ruptiven Montage-Denken. Der expressionistische<br />
Modus der partiellen Ausleuchtung<br />
der Bühne simulierte Kameraeinstellungen,<br />
die nur einen Teil des Spielraumes sichtbar<br />
machten. Der letzte Schauplatz im ersten Teil<br />
der Stückes war als Ort des großen Monologes<br />
besonders »expressionistisch, visionär,<br />
im Stil von Franz Marc, an dessen Bilder allein<br />
schon die ›blauschattene Sonne‹ erinnert«. 3<br />
Am Ende tötet sich der Kassierer im Lokal der<br />
Heilsarmee vor einem Vorhang, auf den ein<br />
Kreuz aufgenäht ist (Abb. 2). Dieses Drama<br />
– ein Beispiel für die Kinofizierung des Theaters<br />
– war in den 1920er-Jahren sehr häufig<br />
auf geführt worden und bot sich mit seinen<br />
Ort- und Handlungssensationen dem Film, in<br />
dem dann Ernst Deutsch, der stilbildende expressionistische<br />
Theaterdarsteller, die Hauptrolle<br />
spielte, als Stoff an. Der Regisseur des<br />
Films, Karlheinz Martin, war ebenso ein Theatermann<br />
wie der Ausstatter Robert Neppach.<br />
In dem 1914 herausgegebenen Kinobuch von<br />
Kurt Pinthus veröffentlichten expressionistische<br />
Auto ren wie Walter Hasenclever oder<br />
Else Lasker-Schüler wiederum Entwürfe für<br />
ein Drehbuch, und Hasenclever beschrieb 1913<br />
in seinem Essay Kintopp als Erzieher das neue<br />
Medium als Ort der Verheißung und Errettung,<br />
kongruent zu einer expressionistischen<br />
Ver kündigung im Drama – im gleichen Jahr<br />
begann er mit der Niederschrift seiner Bühnendichtung<br />
Der Sohn. Der zeitgenössische<br />
Stummfilm scheint auch in der Rückwirkung<br />
Inspiration für Bühnenschauplätze gewesen<br />
zu sein, etwa Robert Wienes Das Cabinet des<br />
Dr. Caligari für die Budenplätze im Entwurf von<br />
Johannes Schröder in Die echten Sedemunds<br />
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