Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe
Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe
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Der Vorhang hebt sich. Aus kleinen Luken<br />
starren grün beleuchtete Gesichter die Zuschauer<br />
an. Die Bühne ist fast ganz finster,<br />
nur die Augen sind deutlich zu sehen. Alles<br />
Übrige ist mit zart rötlichen Schleiern verhüllt,<br />
auf die ein wenig grünes Licht fällt. Die Musik<br />
setzt ein, und mit ihr beginnt der Chor leise<br />
zu sprechen. Einige Zeit später strahlt die<br />
Bühne in gelbem Licht. Ein Mann blickt auf<br />
seine Hand (rotes Licht), die dann sichtlich<br />
ermattet absinkt. Seine Augen werden aufgeregt<br />
(schmutzig-grünes Licht). Die Glieder<br />
spannen sich krampf artig, er streckt zitternd<br />
beide Arme von sich (blutrotes Licht), reißt<br />
den Mund und die Augen weit auf. Wenn es<br />
ganz hell ist, hört der Sturm auf, und das gelbe<br />
Licht geht rasch in ein schwaches, mildes<br />
Blau über.<br />
268<br />
1<br />
Ein multimediales Bühnengeschehen aus Worten,<br />
Gesten, Farben, Licht und Musik entwirft Arnold<br />
Schönberg in seinem Einakter Die glückliche<br />
Hand (komponiert 1910–1913) und überschreitet<br />
damit die Grenzen der herkömmlichen Oper. Als<br />
Komponist wolle er alle anderen Ebenen des Bühnengeschehens<br />
mitkomponieren und sie seiner<br />
musikalischen Setzweise unterwerfen, erläutert<br />
er in einer Rede über Die glückliche Hand, denn<br />
nur so könne man sich »als Musiker auf dem Theater<br />
ausdrücken«. 2 Dementsprechend verzeichnet<br />
die Partitur neben der Musik auf das Genaueste<br />
jede kleinste Geste und Lichtmodulation: Im<br />
Falle des oben zitierten Farbcrescendos etwa<br />
setzt zeitgleich zur Windmaschine ein »Cres<br />
cendo« der Beleuchtung ein. Die einzelnen Farbwerte<br />
und Übergänge dieses Crescendos sind<br />
nicht nur in der Partitur beschrieben, sondern<br />
Schönberg hat sie auch anhand einer Farbskala<br />
in seinen Skizzen exakt bestimmt (Abb. 1–3).<br />
Die glückliche Hand repräsentiert das<br />
Streben der Oper des frühen 20. Jahrhunderts<br />
nach dem <strong>Gesamtkunstwerk</strong>.<br />
Bereits Richard Wagner hatte in seinen<br />
Schriften ähnliche Ziele for muliert, so<br />
etwa in dem Aufsatz »Das Kunst werk der<br />
Zukunft« (1850). Angeregt durch Wagner<br />
und die Bühnenreformbewegung der<br />
Jahrhundertwende, suchten die Expressionisten,<br />
diesen Drang in ihren Inszenierungen<br />
künstlerisch zu verwirklichen. 3<br />
Während Inszenierungen sich zuvor darauf<br />
beschränkten, dem Zuschauer die<br />
Opernhandlung möglichst realistisch zu<br />
vermitteln, dem Sänger einen Rahmen<br />
für seine Kunst zu bieten oder einfach nur<br />
Ort aufwendiger Dekorationen und luxuriöser<br />
Prachtentfaltung sein wollten, sollte<br />
nun durch Licht, Farbe, Raum und Geste<br />
ein eigenständiges Bühnenkunstwerk realisiert<br />
werden. Oder anders gesagt: Es<br />
ging um die Emanzipation der Bühne vom<br />
Text. Als Leitmedium wirkte dabei die<br />
Musik. Ihr sollten die übrigen Künste mit<br />
ihren eigenen Mitteln nachstreben, da sie<br />
am wenigsten gegenständlich gebunden<br />
und ȟberhaupt diejenige gewesen [sei],<br />
die jederzeit den Begriff Ausdruck in seiner<br />
ganzen und wirklichen Bedeutung<br />
verkörpert hat«. 4 Die Musik galt den Expressionisten<br />
durch ihre »Begriffslosigkeit«<br />
und durch ihre Nähe zum »Wesen<br />
alles Triebhaften« als expressionistisches<br />
Medium par excellence.<br />
In der Musikgeschichtsschreibung ist der Begriff<br />
»expressionistisch« zumeist für die Werke<br />
der atonalen Phase der Wiener Schule reserviert,<br />
also für diejenigen Kompositionen, die in<br />
der Zeit zwischen 1909 und 1920 entstanden.<br />
Gemeinsam ist diesen Werken ihre Tendenz<br />
zu Kürze und Konzentration sowie ihre nicht<br />
mehr tonal gebundene Kompositionsweise. 5<br />
Um das Phänomen Oper im Kontext der Ideen<br />
und Praktiken des expressionistischen <strong>Gesamtkunstwerk</strong>s<br />
näher zu untersuchen, müssen wir<br />
allerdings die Perspektive erweitern und diese<br />
enge zeitliche und stilistische Begrenzung<br />
überschreiten. Es reicht nicht, allein auf eine<br />
»expressionistische« Musik zu hören, denn das<br />
Konzept des <strong>Gesamtkunstwerk</strong>s zielt gerade<br />
nicht nur auf die Komposition, sondern auf die<br />
Durchdringung von Theater und Oper sowie<br />
das Zusammentreffen der unterschiedlichen visu<br />
ellen und audiellen Medien im Moment der<br />
Auf führung. Daher müssen wir auch diejenigen<br />
Werke und Inszenierungen in die Diskussion mit<br />
einbeziehen, die erst nach dem Ersten Weltkrieg<br />
als Reaktion auf das expressionistische<br />
Theater entstanden und deren musikalisches<br />
Idi om zum Teil nur wenig mit den expressionistischen<br />
Kompositionen der Wiener Schule gemein<br />
hat. Gerade die Generation der um 1900<br />
geborenen Komponisten fühlte sich vom expressionistischen<br />
Drama angezogen: Der junge<br />
Kurt Weill vertonte Georg Kaisers Der Protagonist<br />
(1926), Ernst Krenek Kokoschkas Orpheus<br />
und Eurydike (1926), und Paul Hindemith griff<br />
zu August Stramms Sancta Susanna (1922)<br />
und Kokoschkas Mörder, Hoffnung der Frauen<br />
(1922). 6<br />
Der Sehnsucht nach Einheit der Künste im Bühnenerlebnis<br />
steht in diesen Operntexten eine<br />
fragmentierte Welterfahrung der Protagonisten<br />
gegenüber. Mit dem <strong>Expressionismus</strong> betritt ein<br />
zutiefst gespaltenes Ich die Opernbühne, dessen<br />
Schicksal die existenziellen Erschütterungen<br />
und Ängste der Moderne thematisiert. Dieses<br />
Spannungsverhältnis von einer Dramaturgie, die<br />
um die Spaltung des Ichs und seine Zerrüttung<br />
kreist, und einer Inszenierungspraxis, die in der<br />
Bühnengestaltung eine Sehnsucht nach Einheit<br />
zu verwirklichen sucht, ist charakteristisch für<br />
das expressionistische <strong>Gesamtkunstwerk</strong> Oper<br />
und soll daher im Folgenden näher beleuchtet<br />
werden. Dabei stehen mit Paul Hindemiths Vertonung<br />
(1922) von Oskar Kokoschkas Mörder, Hoffnung<br />
der Frauen (1909) sowie Alban Bergs und<br />
Manfred Gurlitts Wozzeck-Opern (1925 beziehungsweise<br />
1926) nach Georg Büchners Woyzeck<br />
(1837) zunächst drei Werke im Mittelpunkt, die<br />
die menschliche Existenz als eine zutiefst gespaltene<br />
präsentieren. Der schwache Held der<br />
Opern Bergs und Gurlitts ist hin- und hergerissen<br />
zwischen Wahn und Wirklichkeit, und die Protagonisten<br />
aus Mörder, Hoffnung der Frauen repräsentieren<br />
zwei wider streitende Prinzipien, die<br />
sich unversöhnlich bekämpfen. Der Blick auf die<br />
Bühnenrealisierung rückt daraufhin den Synthesegedanken<br />
in den Vordergrund.<br />
Das gespaltene Ich<br />
Geschlechterkampf<br />
Mörder, Hoffnung der Frauen<br />
»Ich weiß nicht, ob diese Art Kunst dir gefallen<br />
würde; es ist die ganz ›ultraüberspannte‹<br />
Richtung, deren Ziele mich äußerst interessieren,<br />
deren Wege ich aber nicht recht begreifen<br />
kann. (Vielleicht nur jetzt noch nicht.<br />
Vielleicht muß ich sie selbst einmal beschreiten.)«<br />
7 Mit diesen Worten berichtet Hindemith<br />
einer Jugendfreundin von seiner Entdeckung<br />
der Zeitschrift Das Kunstblatt, deren Oktoberheft<br />
des Jahrgangs 1917 dem Œuvre Kokoschkas<br />
gewidmet ist. Wenig später beschließt er,<br />
Kokoschkas einaktiges Drama Mörder, Hoffnung<br />
der Frauen, das seit seiner Uraufführung<br />
während der Internationalen Kunstschau in<br />
Wien im Juli 1909 skandalträchtige Berühmtheit<br />
erlangt hatte und 1910 erstmals in der Zeitschrift<br />
Der Sturm veröffentlicht wurde (Abb. 4),<br />
zum Gegenstand einer Oper zu machen. »Der<br />
Mann« mit einer Schar von Kriegern trifft »die<br />
Frau« mit ihrem weiblichen Gefolge vor einer<br />
Festung. Er lässt sie mit einem Eisen brandmarken,<br />
sie schlägt ihm daraufhin eine Wunde<br />
in die Seite und sperrt ihn in einen Käfig. Verführt<br />
von einer Art Hassliebe, lässt sie ihn frei.<br />
Der Mann aber, dem Tode nah, verfügt noch<br />
über unwiderstehliche Kräfte. Durch seine<br />
Hände berührt, stirbt die Frau. 8<br />
Kokoschka gestaltet in diesem archetypischen<br />
Drama das, was der Wiener Modephilosoph Otto<br />
Weininger in seiner viel gelesenen Dissertation<br />
Geschlecht und Charakter von 1903 (zu deren<br />
Lesern im Übrigen auch Alban Berg gehörte) als<br />
einen Grundkonflikt der menschlichen Existenz<br />
beschreibt: den Kampf zwischen dem geistigen<br />
und dem körperlichen Prinzip. Weininger findet<br />
für diesen Grundkonflikt des Ich die Formel des<br />
Geschlechterkampfes. Während das männliche<br />
Prinzip zum Statthalter des Geistes, zum »Ebenbild<br />
Gottes, des absoluten Etwas« werde, 9 sei<br />
die Existenz des Weibes in seinem animalischen<br />
Geschlechtstrieb an die Sexualität des Mannes<br />
gebunden: »Sein Dasein ist an den Phallus geknüpft,<br />
und darum dieser sein höchster Herr und<br />
unumschränkter Gebieter.« 10 Diese heute reichlich<br />
seltsam anmutenden Thesen gipfeln schließlich<br />
in Weiningers Forderung, der Mann müsse<br />
sich durch Entsagung vom »Geschlechtlichen<br />
erlösen«. Allein seine Keuschheit sei die Rettung<br />
der Frau und zugleich ihr Tod. 11 Aus dieser gedanklichen<br />
Volte erklärt sich auch der Titel des<br />
Einakters Mörder, Hoffnung der Frauen.<br />
Hindemith setzt in seiner Vertonung genau<br />
bei dieser dualistischen Struktur des Dramas<br />
an und konzipiert seine Oper ähnlich<br />
einem Sinfoniesatz um zwei kontrastierende<br />
Themenkomplexe. Obgleich dem Werk<br />
solch ein abstrakter Formplan zugrunde<br />
liegt, komponiert er ganz nah am szenischen<br />
Geschehen. Mit zwei dunklen, lang ausgehaltenen<br />
Klängen der Hörner und Posaunen<br />
in tiefer Tonlage hebt das Vorspiel an.<br />
Scharf reibt sich der Sekundklang c–des,<br />
der eine große Leere evoziert ohne rhythmische<br />
oder tonale Orientierung. Bereits<br />
Wagner hat zu Beginn seines Rheingolds<br />
(1869) einen solchen »Urgrund« komponiert<br />
mit dem tiefen »Es« in den Kontrabässen.<br />
Bei Hinde mith ist aber schon dieser<br />
erste Klang kein harmonisches Fundament<br />
wie in Rheingold, sondern eine scharfe Dissonanz,<br />
eine »Störung«. Langsam entspinnt<br />
sich aus diesen Anfangstakten ein melodisches<br />
Motiv, indem die scharfen Reibungen<br />
nun nicht mehr gleichzeitig, sondern die<br />
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