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Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe

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In dem engen Geflecht der Zusammenschlüsse<br />

verantworteten und förderten einzelne<br />

zentrale Gestalten wie beispielsweise Erich<br />

Heckel, August Macke, Franz Marc und Max<br />

Pechstein die Verbindungen unter den Künstlern<br />

und den jeweiligen Künstlerkreisen. So<br />

knüpfte beispielsweise Franz Marc über seine<br />

Freundschaft mit August Macke seit 1910<br />

Kontakte zum losen Verbund der Rheinischen<br />

Expressionisten und während seiner Berlin-<br />

Reise ab dem 28. Dezember 1911 Beziehungen<br />

zu den Mitgliedern der Neuen Secession<br />

und der Brücke, die auch in gemeinsamen<br />

Ausstellungsbeteiligungen mündeten. Marc<br />

machte während seines Aufenthalts in Berlin<br />

die für den Blauen Reiter bahnbrechende<br />

Bekanntschaft mit dem Sturm-Kreis und<br />

Herwarth Walden, dessen Galerie mit einer<br />

Ausstellung zum Blauen Reiter im März 1912<br />

eröffnete und dessen theoretische Ausrichtung<br />

Wassily Kandinsky ab etwa Juni 1912<br />

maßgeblich beeinflusste.<br />

108<br />

30 Von da an verband<br />

ihn auch eine enge Freundschaft mit<br />

Else Lasker-Schüler, die sich in zahlreichen<br />

Briefen, Gedichten und Bezügen zur Kunst<br />

des anderen äußerte (Abb. 9).<br />

Schlüsselfiguren als Mittler im grenzüberschreitenden<br />

Netzwerk sind insbesondere<br />

die Herausgeber der avantgardistischen<br />

Zeit schriften Die Aktion (Abb. S. 123) und<br />

Der Sturm (Abb. S. 53), die auf eine neue,<br />

sehr bewusste Weise Schrift und Bild miteinander<br />

verknüpften: 31 Um Franz Pfemfert<br />

und Herwarth Walden (Abb. S. 54) versammelten<br />

sich Künstler aller Gattungen. So<br />

schrieb Walden 1909 an sein Vorbild Karl<br />

Kraus, den Herausgeber der satirischen<br />

Zeitschrift Die Fackel: »[…] ich stelle fest,<br />

daß ich vor Allen, meine Freunde drucke.<br />

Denn zum Teufel, man sucht sich doch keine<br />

Idioten zu Freunden aus.« 32 Pfemfert<br />

und Walden schufen um ihre Zeitschriften<br />

nahezu zeitgleich »Imperien« mit Verlag<br />

(1912), Buchreihen (1912), Autoren- und<br />

Kunstabenden (Aktion 1912 / Sturm 1916)<br />

sowie Buchhandlungen (1917). Während<br />

jedoch Die Aktion politisch und zeitkritisch<br />

ausgerichtet war, versuchte Der Sturm allein<br />

den Durchbruch der Avantgarde zu erringen.<br />

Im Bewusstsein, dass nur eine Konzentration<br />

der künstlerischen Kräfte deren Etablierung<br />

ermöglichen konnte, erweiterten<br />

Walden und der Sturm-Kreis ihre Akti vitäten<br />

auf die Sturm-Galerie (1912), die Sturm-<br />

Kunstschule (1916), den Sturm-Klub (1917)<br />

und die Sturm-Bühne (1918). 33 Der Leiter<br />

der Sturm-Bühne, Lothar Schreyer, und die<br />

einzige nachweis liche Schülerin der Sturm-<br />

Kunstschule, Lavinia Schulz (Abb. S. 445),<br />

nahmen nach ihrer Berliner Zeit die Visionen<br />

von der »Einheit der Gestalt« 34 und der<br />

»Einheit der Welt« nach Hamburg und zu<br />

den dortigen Künstlerfesten mit. 35 Fruchtbare<br />

Freundschaften entstanden ebenfalls<br />

im Umkreis des Sturms, die wie bei<br />

Alfred Döblin und Ernst Ludwig Kirchner<br />

zur produktiven Zusammenarbeit (Abb.<br />

S. 59) und wechselseitiger Beeinflussung<br />

führten. Um generell die Durchschlagskraft<br />

für die Sturm-Visionen zu erhöhen, waren<br />

nahezu alle Institutionen des Sturm-Kreises<br />

eng miteinander verwoben und auf einander<br />

bezogen: So veröffentlichte 1910 der durch<br />

Karl Kraus vermittelte Oskar Kokoschka<br />

sein skandalumwittertes Drama Mörder,<br />

Hoffnung der Frauen mit da zugehörigen<br />

Zeichnungen in der Zeitschrift Der Sturm<br />

(Abb. S. 270). 36 Die gleichen Zeichnungen<br />

fanden 1913 Eingang in die erste edierte<br />

Sturm-Mappe und wurden 1916 gemeinsam<br />

mit dem Text im Sturm-Verlag als Buch veröffentlicht.<br />

Zudem nahm Kokoschka an den<br />

Ausstellungen in der Sturm-Galerie teil;<br />

beispielsweise mit 35 Arbeiten an de ren Eröffnungsausstellung<br />

Der Blaue Reiter. Franz<br />

Flaum. Oskar Kokoschka. Expressio nisten<br />

ab März 1912. 37 Sein durch das Sturm-<br />

»Unternehmen« forcierter Ruhm führte<br />

1917 zur Aufführung des Dramas Mörder,<br />

Hoffnung der Frauen im Dresdner Albert-<br />

Theater und zur Veröffentlichung in der<br />

vom Kurt Wolff Verlag herausgegebenen<br />

Reihe Der Jüngste Tag, die wiederum dem<br />

Komponisten Paul Hinde mith in die Hände<br />

fiel und diesen zur gleichnamigen Oper inspirierte.<br />

38<br />

Viele Künstler und Literaten vermochten sich<br />

durch die Möglichkeiten des Sturms und der<br />

Aktion zu profilieren und zu etablieren. 39 Demnach<br />

zeugen insbesondere diese »Flaggschiffe<br />

der expressionistischen Zeitungslandschaft« 40<br />

vom Erfolg der synästhetischen Strategie. So<br />

wurde die genuine Idee des <strong>Gesamtkunstwerk</strong>s<br />

von der Jugend zum einen als Instrument<br />

gegen verfestigte Strukturen und zum<br />

anderen als »Einheit der Welt«-Vision gegen<br />

das Gefühl der Zerrissenheit eingesetzt. Dieses<br />

Auftreten ist nicht denkbar ohne die einflussreichen<br />

Ansichten Friedrich Nietzsches<br />

und den unbedingten Willen zum Aufbruch.<br />

Die grellgelben Schatten des<br />

großen Weltgewitters 41<br />

Es wuchs insbesondere unter den Intellektuellen<br />

dieser Zeit zunehmend die Ansicht: Zerstörung<br />

schafft Wechsel. Die viel zitierten Zeilen Thomas<br />

Manns schildern anschaulich die bejahende Geisteshaltung<br />

zum Ersten Weltkrieg: »Wie hätte der<br />

Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben<br />

sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt,<br />

die er so satt, so überaus satt hatte! Krieg!<br />

Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden,<br />

und eine ungeheure Hoffnung.« 42 Unter der mörderischen<br />

Realität des grausamen Grabenkrieges<br />

wandelten sich die idealistischen Vorstellungen<br />

jedoch rasch in schlichten Überlebenswillen. Die<br />

Opfer standen auf allen Seiten, und zahlreiche<br />

Künstler und Literaten fielen in den Schlachten<br />

des Ersten Weltkriegs. Die als unvergänglich<br />

empfundene Ordnung des 19. Jahrhunderts war<br />

unwiederbringlich verloren. Das 20. Jahrhundert<br />

hatte begonnen. Dem Gedenken an die Gefallenen<br />

wurde 1919 das Buch der Toten 43 gewidmet,<br />

das mit seinen Gedichten und Grafiken den Geist<br />

des <strong>Gesamtkunstwerk</strong>s atmet und diesem ein<br />

»Kriegsdenkmal« setzt.<br />

04_Becker_V2.indd 108 08.10.2010 19:59:04 Uhr

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