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Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe

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Respekt für die »Begeisterungsfähigkeit, Unternehmungslust,<br />

vor allem auch Disziplin«<br />

der deutschen Reformer. 17<br />

In beiden Richtungen herrschte eine rege Reisetätigkeit.<br />

USA­Reisen standen bei deutschen Fachkollegen<br />

schon vor 1914 auf der Tagesordnung.<br />

Oft waren es die Weltausstellungen, die einen<br />

zu sätzlichen Anreiz boten, sich im Ausland umzutun.<br />

Der englischen Arts­and­Crafts­Bewegung<br />

galten nicht nur Aufsätze in deutschen Fachorganen,<br />

sondern einschlägig interessierte Architekten<br />

wie Otto March und Emanuel von Seidl – schon<br />

1891 ! –, später auch Ernst May, informierten sich<br />

vor Ort. Vor allem war es Hermann Muthesius, der<br />

die frohe Botschaft vom englischen Landhaus als<br />

»ungebundenem Wesen« verbreitete. 18 Charles<br />

Rennie Mackintosh mit seinen ausdrucksstarken<br />

schottischen Bauten und Interieurs wurde 1900 in<br />

Wien als Star gefeiert. Auch andere Großmeister<br />

des europäischen Art Nouveau wie Hendrik Petrus<br />

Berlage in Amsterdam oder Otto Wagner in Wien<br />

und seine Schüler waren Bezugsfiguren für die<br />

Expressionisten­Generation. Der belgische Allroundkünstler<br />

Henry van de Velde (Abb. 2), der<br />

von 1900 bis 1917 erst in Berlin und dann in Weimar<br />

arbeitete und in der Architektur die ganze Skala<br />

menschlicher Empfindungen spiegeln wollte, galt<br />

damals fast schon als Inländer. Das änderte sich<br />

freilich während des Ersten Weltkrieges, als dem<br />

verdienten Künstler der chauvinistische Hass seiner<br />

vormaligen Gastgeber entgegenschlug.<br />

Als Frank Lloyd Wright 1909 seine Europa­<br />

Reise antrat und in Berlin beim Wasmuth<br />

Verlag sein berühmtes Album betreute, das<br />

dann in manchen deutschen Architektenbüros<br />

als gern befragte Inspirationsquelle<br />

auflag, besuchte er unter anderem auch<br />

Darmstadt. Die Nachricht, die Deutschen<br />

sähen in ihm, Wright, den Olbrich Amerikas,<br />

hatte ihn neugierig gemacht. 19 Wrights<br />

Präriehäuser und seine Verwaltungsbauten<br />

machten großen Eindruck auf die jüngere<br />

Generation. Bauten, die nach seiner<br />

Rückkehr in die Staaten entstanden, wie<br />

der Vergnügungspark der Midway Gardens<br />

in Chicago (1913 / 14) und das Kaiserliche<br />

(Imperial) Hotel in Tokio (1915–1922,<br />

Abb. 3), stellten sich ihrerseits in ihrer kristallinen,<br />

labyrinthisch verrätselten Sprache<br />

dem mitteleuropäischen <strong>Expressionismus</strong><br />

zur Seite. Erich Mendelsohn, zeitlebens ein<br />

loyaler Anhänger des Meisters, rhapsodierte<br />

angesichts der Midway Gardens: »Da<br />

bricht die Phantasie in den Raum ein, faßt<br />

Teile von ihm, schleudert sie durcheinander,<br />

türmt, reißt herum, schichtet, stachelt,<br />

lockt, glänzt und lacht mit dem Leben. Ein<br />

Stück Urleben, Lustleben im Raum.« 20<br />

Der Krieg unterbrach die internationalen Kontakte.<br />

Die Kameraderie der Avantgardisten<br />

war vorübergehend aufgehoben. Patriotischer<br />

Rausch erfasste auch Maler, Bildhauer und Architekten,<br />

die sich bis dahin als Kosmopoliten<br />

gefühlt hatten. Vom Krieg erhofften Dichter wie<br />

Künstler mit wenigen Ausnahmen, wenn schon<br />

nicht Ruhm und Vormachtstellung für das eigene<br />

Vaterland, so doch eine Steigerung der<br />

Lebensintensität und einen Aufbruch aus bürgerlicher<br />

Kirchhofsruhe. Viele meldeten sich<br />

freiwillig an die Front. »Wir bluten gern für’s<br />

Vaterland«, behauptete Richard Dehmel 1914 in<br />

seiner Ballade Der Feldsoldat.<br />

Gleichsetzungen von Expressivität und Deutschtum,<br />

in der Vorkriegszeit in der Distanzierung gegenüber<br />

dem »französischen« Impressionismus<br />

gebraucht, nahmen nun aggressiven Charakter<br />

an. Auf den Schlachtfeldern an der Marne und in<br />

Flandern erwiesen sich jedoch alle patriotischen<br />

Hochstimmungen schnell als Illusionen. Schon in<br />

den Anfangsmonaten fielen August Macke und<br />

die Dichter Alfred Lichtenstein, Ernst Stadler,<br />

Georg Trakl. Wer aus dem ersten volltechnisierten<br />

Weltkrieg zurückkehrte, trug bleibende Wunden<br />

an Körper und Seele davon.<br />

Verbindungen wurden bereits während des<br />

Krieges wieder gesucht, in Deutschland im<br />

Kreis um die von Franz Pfemfert herausgegebene<br />

Zeitschrift Die Aktion, in Frankreich<br />

von dem Schriftsteller Romain Rolland und<br />

dessen Freunden, die bereits im September<br />

1914 einen Appell »an die europäische<br />

Elite« veröffentlichten. Zu einem Treffpunkt<br />

deutschsprachiger Kriegsgegner wurde die<br />

Schweiz. Nach dem Krieg stellten sich die<br />

Kontakte über die Grenzen hinweg schnell<br />

wieder her. Die Hoffnung auf eine neue Gesellschaft,<br />

auf einen Neuen Menschen, auf<br />

Brüderlichkeit und Solidarität, aber auch<br />

gemeinsame berufspraktische Erfahrungen<br />

einten über die Grenzen hinweg Künstler, die<br />

auf politisch linken Positionen standen oder<br />

zumindest einem Sozialismus der Gesinnung<br />

huldigten. »Den toten Streitern in Wehmut /<br />

Allen Brüdern des Sternes Erde in Liebe«,<br />

widmete Adolf Behne 1919 sein Buch Wiederkehr<br />

der Kunst.<br />

Die intellektuellen Patenschaften in dieser paneuropäischen<br />

Weltanschauungsgemeinschaft<br />

reichten von der Verklärung des großen Individuums<br />

bei dem längst verstorbenen Friedrich<br />

Nietzsche über die Lehre vom »élan vital« bei<br />

Henri Bergson oder dem Anarchismus eines<br />

Fürsten Kropotkin, der »gegenseitige Hilfe in<br />

der Entwicklung« forderte, 21 bis zu den Mystikern<br />

des Mittelalters und Barock.<br />

Die großen »Randgermanen«<br />

Neben dieser weltoffenen Bewegung etablierte<br />

sich nach 1918 allerdings auch ein <strong>Expressionismus</strong>,<br />

der auf die Kraft der Landschaft, der Stämme,<br />

der Nation und Rasse setzte. Europäische Verbindungen<br />

waren hier weniger wichtig, das eigene<br />

Herkommen galt mehr als die Anregungen von<br />

außerhalb. Wenn der Blick nach draußen ging, so<br />

fiel er auf jene Völker, die Eckart von Sydow –<br />

leider ironiefrei – »die großen Randgermanen«<br />

nannte. 22 Edvard Munch und August Strindberg<br />

waren hier die Namen, die immer wieder fielen.<br />

In Norddeutschland berief man sich gern auf die<br />

Hanse, die eine stattliche Zahl von »Randgermanen«<br />

zusammengeführt hatte: »Der Geist von<br />

Deutschlands größter Kulturzeit, der Hansageist,<br />

muß wieder lebendig werden. Zurück zur Heimat!<br />

Oder das Hoffnungslied auf eine kommende neue<br />

Kultur ist umsonst gesungen.« 23<br />

Für die Baukunst bedeutete dieser Ordnungsruf<br />

die Besinnung auf die Ziegelsteinkultur der<br />

nordischen Backsteingotik, deren zeitgenössisch­expressive<br />

Variante in den Hamburger<br />

Kontorhäusern und nicht zuletzt in der modernisierten<br />

Kathedralgotik von Peder Vilhelm<br />

Jensen­Klints imposanter Grundtvigkirche in<br />

Kopenhagen (1921–1940, Abb. 4) kulminierte.<br />

Zu den Niederlanden waren die Kontakte enger<br />

als zu jedem anderen Land. Wie selbstverständlich<br />

ergab sich eine große Schnittmenge<br />

an Gemeinsamkeiten. Hendrik Petrus<br />

Berlage war eine auch in Deutschland verehrte<br />

Patriarchenfigur, dessen Amsterdamer<br />

Börse als Musterbeispiel konstruktiver Wahrhaftigkeit<br />

und disziplinierter Ausdruckskraft<br />

galt. Schriften des Architekten wurden auch<br />

in deutscher Sprache veröffentlicht. 24 Bruno<br />

Taut, Adolf Behne, Erich Mendelsohn – der<br />

mit dem genialischen Formenspieler Michel<br />

de Klerk (Abb. 5) befreundet war und zusammen<br />

mit ihm nach Ägypten und Palästina<br />

reiste – gastierten in Amsterdam und konnten<br />

in der Avantgarde­Zeitschrift Wendingen<br />

publizieren.<br />

Sogar dem Außenseiter Hermann Finsterlin, Erfinder<br />

hybrider »Wohnlinge«, wurde ein ganzes<br />

Wendingen­Heft gewidmet. Die »würdige Gaststätte<br />

Wendingen« (Finsterlin) sah viele deutsche<br />

Pilger. 25 In Tauts Buch Die Stadtkrone (1919), das<br />

doch als städtebauliches Manifest zeitgenössischer<br />

Gesellschafts­ und Gemeinschaftsvorstellungen<br />

gilt, spürten die Amsterdamer Kollegen<br />

nicht zu viel, sondern zu wenig Aufbruchswillen:<br />

»Ein Licht, ein Brand ist Tauts Werk nicht.« 26<br />

Mit Johannes Ludovicus Mathieu Lauweriks, der<br />

an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule und<br />

dann am Hagener Seminar für Handfertigkeitsunterricht<br />

wirkte, gelangten theosophisches Gedankengut<br />

und die auf ihm gegründeten Proportionslehren<br />

nach Deutschland. Das Werk Rudolf<br />

Steiners, der sein Nachfolger in der Leitung der<br />

deutschen Sektion der Theosophie war und mit<br />

dem Zweiten Goetheanum in Dornach eine der<br />

sonderbarsten Architektur skulpturen der Zeit<br />

entwerfen sollte (Abb. 6), illustriert diese vielfältigen<br />

Beziehungsspiele. Steiner war nicht nur<br />

der internationalen theosophischen Bewegung<br />

verpflichtet, die er zur Anthroposophie umformte.<br />

In Wien konnte er im Umkreis Otto Wagners<br />

Personen »von mys tisch­theosophischer Seelenverfassung«<br />

kennenlernen, 27 unter denen Architekten<br />

wie Otto Schönthal oder Alois Bastl<br />

fantastische Tempelanlagen ersannen. In Berlin<br />

kannte und liebte Steiner die kauzigen Romane<br />

Paul Scheerbarts, der seine Figuren in Glas­ und<br />

Weltraumabenteuer schickte und die Freunde<br />

um Bruno Taut zu ihren Visionen inspirierte.<br />

Schließlich konnte er bei seinen Vortragsreisen<br />

in Prag die kubistische Architektur der jungen<br />

Tschechen kennenlernen, die seinen späteren<br />

eigenen Entwürfen nahekommt. Steiner pflegte<br />

bei Freunden am Altstädter Ring zu nächtigen,<br />

wo er mit dem Kaufhaus Zur Schwarzen Muttergottes<br />

ein Hauptwerk dieses scharfkantigkristallinen<br />

Stils vor Augen hatte.<br />

Den italienischen Futurismus, dank der<br />

Initiativen Herwarth Waldens auch in<br />

Deutschland präsent, trennten vom deutschen<br />

<strong>Expressionismus</strong> der vorbehaltlose<br />

Optimismus, die medienwirksame Organisation<br />

und die Faszination für Maschine<br />

und Metropole. Gleichwohl trafen Künstler<br />

wie Umberto Boccioni (mit seinem Zyklus<br />

Stati d’animo, 1911!), Mario Sironi oder<br />

Scipione (Gino Bonichi) auch den expressionistischen<br />

Empfindungsnerv, wie umgekehrt<br />

Künstler der Brücke, Ernst Barlach,<br />

Wilhelm Lehmbruck, Max Beckmann, Franz<br />

Marc oder Käthe Kollwitz in Italien gezeigt<br />

14_Pehnt_V2.indd 379 09.10.2010 7:11:32 Uhr<br />

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