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Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe

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laufen dem Horizont zu. Doch die Häuser neben<br />

uns – wir fühlen sie nur mit halbem Auge – scheinen<br />

zu wanken und zusammenzubrechen. Hier<br />

schießen Linien, die in Wirklichkeit parallel<br />

laufen, steil empor und schneiden sich. Giebel,<br />

Schornsteine, Fenster sind dunkle, chaotische<br />

Massen, fantastisch verkürzt, vieldeutig.<br />

Malt im Blickpunkt mit kleinen Pinseln,<br />

kurze, heftig empfundene Linien, die alle sitzen<br />

müssen! Malt hier sehr nervös; aber je weiter ihr<br />

euch dem Bildrand nähert, desto breiter und unbestimmter<br />

könnt ihr werden.<br />

Früher hieß es immer: es gibt keine gerade<br />

Linie in der Natur, die freie Natur ist unmathematisch.<br />

Man liebte die gerade Linie nicht und<br />

noch Whistler löste sie in viele kleine Teile auf.<br />

Seit den Tagen Ruisdaels ist die gerade Linie in<br />

der Landschaftsmalerei verpönt und die Künstler<br />

haben immer vermieden, neue Gebäude, neue<br />

Kirchen und Schlösser auf ihren Bildern anzubringen.<br />

Sie zogen die pittoresken Dinge vor,<br />

denn diese waren unregelmäßig und vielgestaltig:<br />

baufällige Häuser, Ruinen und möglichst<br />

viel Laubbäume.<br />

Wir Heutigen, Zeitgenossen des Ingenieurs,<br />

empfinden die Schönheit der geraden Linien, der<br />

geometrischen Formen. Nebenbei sei bemerkt,<br />

daß auch die moderne Bewegung des Kubismus<br />

große Sympathie für geometrische Formen an<br />

den Tag legte, ja daß sie bei ihr eine noch tiefere<br />

Bedeutung haben als bei uns.<br />

Unsere gerade Linie – hauptsächlich in der<br />

Graphik angewandt – ist nicht zu verwechseln<br />

mit den Linien, welche die Maurermeister auf<br />

ihren Plänen mit der Reißschiene ziehen. Glaubt<br />

nicht, daß eine gerade Linie kalt und starr sei!<br />

Ihr müsst sie nur sehr erregt zeichnen und ihren<br />

Verlauf gut beachten. Sie sei bald dünn,<br />

bald dicker und von leisem, nervösem Erzittern.<br />

Sind nicht unsere Großstadtlandschaften<br />

alle Schlachten von Mathematik! Was für<br />

Dreiecke, Vierecke, Vielecke und Kreise stürmen<br />

auf den Straßen auf uns ein. Lineale sausen<br />

nach allen Seiten. Viel Spitzes sticht uns.<br />

Selbst die herumtrabenden Menschen und Viecher<br />

scheinen geometrische Konstruktionen zu<br />

sein. Nehmt einen breiten Bleistift und ziehet<br />

heftig auf dem Papier gerade Linien und dieses<br />

Gewirr mit einiger Kunst angeordnet wird viel<br />

lebendiger sein als die prätentiösen Pinseleien<br />

unserer Professoren.<br />

Über die Farbe ist nicht viel zu sagen. Nehmt<br />

alle Farben der Palette – aber wenn ihr Berlin<br />

malt, so verwendet nur Weiß und Schwarz, nur<br />

wenig Ultramarin und Ocker, aber viel Umbra.<br />

Kümmert euch nicht um »kalte« oder »warme«<br />

Töne, um »Komplementärfarben« und ähnlichen<br />

Humbug – ihr seid keine Divisionisten – aber<br />

strömt euch frei aus, frei, ungehemmt und sorglos.<br />

Denn darauf kommt es an, daß morgen Hunderte<br />

von jungen Malern voller Enthusiasmus<br />

sich auf dieses neue Ge biet stürzen. Ich habe hier<br />

nur einige Hin weise und Andeutungen gegeben.<br />

Man könnte es ebensogut auch anders machen,<br />

vielleicht besser und überzeugender. Aber die<br />

Großstadt muß gemalt werden.<br />

Es ist schon in den Manifesten der Futuristen<br />

– nicht etwa in ihren Machwerken – gesagt<br />

worden, wo die Probleme liegen und Robert<br />

Delaunay hat vor drei Jahren mit seiner großartigen<br />

Konzeption des »Tour Eiffel« [*] unsere<br />

Bewegung inauguriert. Auch ich habe in diesem<br />

Jahre in einigen malerischen Versuchen und gelungeneren<br />

Zeichnungen praktisch das getan,<br />

wofür ich hier theoretisch eintrete. Und alle<br />

jüngeren Talente sollten sogleich an die Arbeit<br />

gehen und alle unsere Ausstellungen mit Großstadtschilderungen<br />

überschwemmen.<br />

Leider verwirrt heute allerlei Atavistisches<br />

die Köpfe. Das Stammeln primitiver Völker beschäftigt<br />

auch einen Teil der deutschen Maler-<br />

Jugend und nichts scheint wichtiger zu sein als<br />

Buschmannmalerei und Aztekenplastik. Auch<br />

das wichtigtuende Gerede steriler Franzosen<br />

über »absolute Malerei«, über »das Bild« u. a.<br />

findet bei uns lauten Widerhall. Aber seien<br />

wir ehrlich! Gestehen wir uns nur ein, daß wir<br />

keine Neger oder Christen des frühen Mittel alters<br />

sind! Daß wir Bewohner von Berlin sind anno<br />

1913, in Cafehäusern sitzen und diskutieren,<br />

viel lesen, sehr viel vom Verlauf der Kunstgeschichte<br />

wissen und: daß wir alle vom Impressionismus<br />

herkamen! Wozu die Manie ren und<br />

Anschauungen vergangener Zeiten nach ahmen,<br />

das Unvermögen als das Richtige proklamieren?!<br />

Sind diese rohen, mesquinen Figuren, die<br />

wir jetzt in allen Ausstellungen sehen, ein Ausdruck<br />

unserer komplizierten Seele?! Malen wir<br />

das Naheliegende, unsere Stadt-Welt! die tumultuarischen<br />

Straßen, die Eleganz eiser ner Hängebrücken,<br />

die Gasometer, welche in weißen Wolkengebirgen<br />

hängen, die brüllende Koloristik<br />

der Auto busse und Schnellzugslokomotiven, die<br />

wogenden Tele phondrähte (sind sie nicht wie Gesang?),<br />

die Harlekinaden der Lit faß-Säulen, und<br />

dann die Nacht ... die Großstadt-Nacht ...<br />

Würde uns nicht die Dramatik eines gut<br />

gemalten Fabrikschornsteins tiefer bewegen als<br />

alle Borgo-Brände und Konstantinsschlachten<br />

Raffaels?<br />

[*] Robert Delaunay, Tour Eiffel, 1911 (datiert<br />

1910), Öl auf Leinwand, Solomon R. Guggenheim<br />

Museum, New York. [Anm. d. Red.]<br />

Anleitung zum Malen<br />

von Großstadtbildern<br />

07_Kraemer_V2.indd 217 08.10.2010 20:19:49 Uhr<br />

217

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