Gesamtkunstwerk Expressionismus - Mathildenhöhe
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Geschichte beim Publikum bewirkt hatte: die<br />
Tragödie eines Psychiaters, der über den Missbrauch<br />
seiner mentalen Kräfte selbst wahnsinnig<br />
geworden war […].« 9<br />
Janowitz hält an seiner ursprünglichen Darstellung<br />
fest: »Natürlich war es im Kern<br />
auch die Tragödie eines Psychiaters, der<br />
seinen Verstand verloren hatte, die packende<br />
Geschichte eines Mannes, den eine ›fixe<br />
Idee‹ gezwungen hatte, ›Caligari zu werden‹,<br />
um herauszufinden, ob es möglich<br />
sei, einem hypnotisierten Medium einen<br />
Mord zu befehlen; die fesselnde Darstellung<br />
dieser Morde; das expressionistisch<br />
gemalte Bühnenbild, und, natürlich ebenso,<br />
die Schauspielkunst eines Werner Krauss,<br />
Conrad Veidt oder [Hans Heinrich von]<br />
Twardowski; all dies trug zu jener spannenden,<br />
krassen, auffällig makabren Atmosphäre<br />
bei, die das Publi kum mitriss.« 10<br />
Während also für Janowitz die stilistische Gestaltung<br />
des Films offenkundig sekundär ist,<br />
besteht für Hermann Warm eben in der expressionistischen<br />
Stilisierung des Caligari die<br />
eigentliche Qualität des Films: »In diesem einzigen<br />
(besonderen) Fall will ich gelten lassen,<br />
daß die Dekors zum Hauptausdrucksmittel<br />
wurden.« 11 Inwiefern jedoch Das Cabinet des<br />
Dr. Caligari als radikale stilistische Innovation<br />
gesehen werden muss, ist fraglich angesichts<br />
des Umstands, dass der <strong>Expressionismus</strong> als<br />
Kunststil nach dem Ersten Weltkrieg eine erneute,<br />
diesmal über die Kreise der avantgardistischen<br />
Kunstliebhaber wirksam werdende<br />
Beachtung fand. Neben dem genuinen »Nachkriegsexpressionismus«<br />
entwickelte sich zeitgleich<br />
eine eher kunstgewerbliche Form, die<br />
sowohl auf der Theaterbühne als auch in der<br />
Werbung und in Zeitschriften Einzug hielt.<br />
Vor allem letztere Ausprägungen deuten<br />
darauf hin, dass nur eine wenig übersteigerte,<br />
bürgerlich akzeptable Formulierung<br />
des <strong>Expressionismus</strong> eine reelle Chance<br />
auf kommerziellen Erfolg in sich trug. Dies<br />
mag erklären helfen, warum Karlheinz<br />
Martins von Robert Neppach ausgestattete<br />
GeorgKaiserVerfilmung Von morgens<br />
bis mitternachts, im selben Jahr wie Caligari<br />
entstanden, gar nicht erst den Weg<br />
ins Kino fand. Dieser Film habe Caligari<br />
»an Schärfe und Radikalität noch übertroffen«,<br />
12 schrieb Walter Kaul 1970. Das<br />
Ergebnis war der produzierenden Ilag<br />
Filmgesellschaft offenbar zu radikal, um<br />
marktgängig zu sein.<br />
1925, als die expressionistische »Mode« – für<br />
ihn natürlich noch nicht erkennbar – bereits zu<br />
Ende gekommen war, blickte Walter Reimann zurück:<br />
»Dieser Film war ein Anfang, ein Versuch,<br />
neue Wege für den Film zu finden. Wodurch es<br />
aber kam, daß dieser Weg bis heute noch nicht<br />
weiter beschritten wird, ja, daß er sogar in Vergessenheit<br />
gerät und zu versanden droht, das<br />
liegt daran, dass die Prominenten des deutschen<br />
Filmfachs, die tonangebenden Leiter der Produktion<br />
diesen Film von Anfang an mißverstanden<br />
haben und auch heute noch nicht Ursache<br />
und Absicht desselben verstehen. Man ist heute<br />
noch allgemein der Ansicht, daß die dem Film<br />
eigentüm liche Auffassungsform lediglich des Irrsinnsmotivs<br />
wegen gewählt wurde: dadurch ist<br />
der Verdacht entstanden, diese Formgebung –<br />
landläufig expressionistisch genannt – sei die<br />
paten tierte Auffassung des Irrsinns und deswegen<br />
zu anderen Zwecken nicht verwendbar.« 13<br />
Im zweiten Teil seiner Reflexionen fährt<br />
Reimann fort: »Der eigentliche Wert des<br />
›Caligari‹Films, und der Grund, weswegen<br />
er immer wieder als eine der bedeutendsten<br />
Schöpfungen der Filmproduk tion<br />
anerkannt wird, liegen meiner Meinung<br />
nach weniger in seiner ›expressionistischen‹<br />
Auffassung [...], die ihn allerdings<br />
als ModeAngelegenheit zur ›Sensation‹<br />
stempelten: sondern vielmehr darin, daß<br />
hier zum erstenmal ein konsequenter und<br />
rein filmischer Auffassungswille herrschte,<br />
der alles, Gedanken, Bild und Bewegung,<br />
die Sprache der toten Form mit der Sprache<br />
der lebenden Form und der Sprache<br />
des Lichts zu einem dramatischen Ganzen<br />
verschmelzen wollte.« 14<br />
Publikum<br />
Was aber hat das Publikum 1920 beim Anschauen<br />
des Caligari gesehen? Ein Blick auf<br />
die Primärrezeption soll erste Anhaltspunkte<br />
liefern.<br />
Schon durch eine breit angelegte Werbekampagne<br />
auf Plakaten wie in der Fachpresse (»Alle<br />
Welt fragt sich, was bedeutet: Du mußt Cali gari<br />
werden« 15 ) und zuvor bereits gelegentlich als<br />
»3. Film der DeclaWeltklasse« 16 angekündigt,<br />
konnte Das Cabinet des Dr. Caligari noch vor seiner<br />
Premiere mit der Aufmerksamkeit des Publikums<br />
rechnen. Das Publikum wurde allerdings<br />
auch konkreter informiert: In einem Leit artikel<br />
beschäftigte sich der FilmKurier schon Anfang<br />
Januar 1920 mit dem »<strong>Expressionismus</strong> im Film«.<br />
Nach einigen grundsätzlichen Reflexionen über<br />
die Verwandtschafts bzw. Abgrenzungs be ziehungen<br />
zwischen Film und Malerei beziehungsweise<br />
Theater kommt der Autor, der offenbar<br />
Zugang zu den Dreharbeiten gehabt hat, auf<br />
Cali gari zu sprechen:<br />
»Bevor man einen Blick in diese neue Welt getan<br />
hat, ist man skeptisch. Man kann sich die<br />
schiefen Linien, die Dreieck und Viereckfiguren<br />
der modernen Malerei nicht plastisch im Raume<br />
vorstellen, vermutet eine Verdoppelung des Unwahrscheinlichen.<br />
Besonders befremdend in der<br />
Realität der Filmphotographie. [...] In diese phantasiegeborene,<br />
unwirkliche Umwelt mußten nun<br />
die handelnden Personen des Dramas gestellt,<br />
mußten diesem neuartigen Milieu erst angepaßt<br />
und in ihm lebendig werden. Dabei war eine gefährliche<br />
Klippe zu umsegeln. Denn die Dekorationen<br />
hätten sonst leicht den Eindruck erwecken<br />
können, als wolle man dadurch die Wahnsinnsideen<br />
deutlich machen. Aber dieses Problem ist<br />
mit künstlerischem Geschmack glücklich gelöst,<br />
indem auch die tatsächliche Rahmengeschichte<br />
in ständiger Beziehung zu der szenischen Gestaltung<br />
bleibt.« 17<br />
Auch andere Fachzeitschriften und Zeitungen<br />
wiesen danach auf Caligari als zu erwartendes<br />
künstlerisches Experiment hin und warteten dabei<br />
bereits mit Beschreibungen der Dekorationen<br />
auf: »Der von der ›Decla‹ vorbereitete Film ›Das<br />
Kabinett des Dr. Kaligari‹ [sic!] soll bekanntlich<br />
der erste expressionistische Film werden. So<br />
bietet denn das Atelier draußen in Weißensee<br />
[...] gegenwärtig einen recht seltsamen Anblick.<br />
Im Hintergrund eine expressionistische Stadt,<br />
zucker hutartig himmelansteigend, mit Häusern,<br />
die sich vor Leibweh krümmen. Vorn ein ›Rummel‹<br />
mit windschiefen Karussells und stark kontrastierenden<br />
Farben. Zweifellos ein interessan tes<br />
Experiment. Für den Film, der allein auf Wirkung<br />
durch das Bild beschränkt ist, liegen vielleicht<br />
in der Verwertung expressionistischer Formen<br />
mit ihrer übersteigerten und konzentrierten Ausdrucksweise,<br />
große Möglichkeiten.« 18 Dabei wurde<br />
bereits auf den Widerhall hingewiesen: »Der<br />
Film erregt schon heute durch die neuartige stilistische<br />
und regietechnische Behandlung in allen<br />
Interessenien [sic!] und auch Publikumskreisen<br />
außerordentliches Aufsehen.« 19<br />
Die zeitgenössische Rezeption erkannte Das<br />
Cabinet des Dr. Caligari überwiegend als großen<br />
Schritt in Richtung auf einen wahrhaft<br />
künstlerischen Film an: »Die Dekorationen in<br />
›Dr. Caligari‹ sind nicht gebaut, wie man die<br />
Dinge sieht, sondern wie man sie in besonderen<br />
seelisch stark gespannten Augenblicken<br />
empfindet. [...] So ist fast überall der charakteristische<br />
Eindruck der Dinge im wesentlichen<br />
erfaßt und noch zugespitzt. [...] Wenn die<br />
Weiterentwickler dieser Filmspezies noch auf<br />
stärkere Stilisierung des Spiels und vor allem<br />
der Kostüme achtet [sic!] und sie zur zeitlosen<br />
Wirkung erhebt [sic!], so wird die Gesamtleistung<br />
noch größer und der künstlerische Genuß<br />
noch tiefer werden.« 20<br />
Im Vergleich zu gleichzeitig entstandenen<br />
»Prunkfilmen« urteilte derselbe Rezensent:<br />
»Einen Fingerzeig, wie man hier letzten<br />
Endes der Banalität entgehen kann, findet<br />
man im expressionistischen Versuch des<br />
Films ›Dr. Caligari‹. Hier sind auch die toten<br />
Dinge zu einer besonderen, im Augenblick<br />
bedeutungsvollen Form zugespitzt.« 21<br />
Über die sofortige Popularität des Films<br />
gibt eine Notiz Auskunft, derzufolge<br />
»Caligari« »zum geflügelten Wort« geworden<br />
sei: »Da flattert uns ein Wiener<br />
Wahlflugblatt von den Gemeindewahlen<br />
auf den Redaktionstisch. Das Blatt zeigt<br />
in der Mitte einen Struwelpeterkopf<br />
[sic!] und darüber in leuchtendem Rot<br />
die Frage: ›Willst Du Caligari werden?‹<br />
Mit den Worten: ›Dann wähle ChristlichSozial<br />
oder kommunistisch!‹ findet<br />
diese Frage unterhalb des Kopfes ihre<br />
Beantwortung. Wir sehen also, Cali gari<br />
ist längst nicht mehr nur ein Problem<br />
des Filmliebhabers oder Kunstkritikers,<br />
sondern bereits ein Problem des alten<br />
Büchmann und seiner Kollegen und der<br />
deutschen Sprachwissenschaft.« 22<br />
Die überwiegende Mehrzahl der Rezensenten<br />
hob den innovativen Charakter<br />
des Films hervor. Nur wenige formulierten<br />
Bedenken, wie etwa der Schriftsteller,<br />
Theater und Filmkritiker Ernst Angel, der<br />
schrieb: »Dieser <strong>Expressionismus</strong> riecht<br />
nach Kunstgewerbe.« 23 Und nur wenige<br />
wiesen auf Parallelen mit dem Theater<br />
hin, so Kurt Tucholsky, der in seiner insgesamt<br />
positiven Besprechung befand:<br />
»[...] hier ist ohne Rest gelöst, was seinerzeit<br />
bei der Inszenierung der ›Wupper‹<br />
im Deutschen Theater erstrebt wurde<br />
und nicht ganz erreicht werden konnte.«<br />
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