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VENEDIG|Dezember2016<br />

19<br />

Wolfgang Mayer-König<br />

Venedig<br />

Kein Ort, der verblieb. Hier endete die Existenz. Vertrieben<br />

aus angestammtem Leben. Von Wohlstand nicht zu reden, an<br />

künftigen Wohlstand nicht zu denken. Was blieb war nur noch<br />

das offene Meer, die Fischerboote, die Angst und die Friedfertigkeit,<br />

ohne die geringste Hoffnung, an irgend einem jenseitigen<br />

Ufer hinterlegt zu haben. Was blieb war die bedrohliche<br />

Übermacht von außen: Goten, Wandalen, Hunnen. Keine<br />

Hilfe in Sicht außer der eigenen, scheinbar nutzlosen. Da<br />

befanden sich vor dem Meer lediglich Sümpfe mit Schlammklumpen,<br />

die bei Ebbe über die Wasseroberfläche lugten.<br />

Insektenschwärme, die unaufhörlich auf die Flüchtlinge einstachen.<br />

Wo im stinkenden Brackwasser der Ausläufer ohne<br />

Wasseraustausch die tödlichen Malariamücken wimmelten.<br />

Kleine Binneninseln umgab zwar bewegliches Wasser, aber<br />

auch dieses war brackig und trüb vom anlandenden Sand.<br />

Die dadurch bedingten Untiefen machten das Gebiet geradezu<br />

unschiffbar. Die Winterstürme trieben die Flut vor sich<br />

her, sodass alle Inseln unter Wasser standen. Und hier gab<br />

es kein Trinkwasser außer dem aufgefangenen Regen. Was<br />

die Gebirgsflüsse hier her trugen war Sand, Geröll und Steine<br />

aus den nahen Alpen, und sie schoben die Flussmündungen<br />

immer weiter hinaus ins Meer. Die auftauchenden Inseln und<br />

Sandbänke wurden von der Meeresströmung wieder fortgeschwemmt.<br />

An manchen Stellen trug das Meer alles zu<br />

schlanken Nehrungen zusammen, natürlichen Dämmen, die<br />

der schließlich einsetzende Bewuchs gegen Brandung und<br />

Wind schützte. Diese „Lidi“ bildeten eine Barriere gegen die<br />

See, an manchen Stellen jedoch auch Durchlässe für den<br />

Wasseraustausch, wodurch eine Lagune entstand. So war<br />

es die Natur selbst, die half und weitere Hilfe ermöglichte,<br />

wenn nur irgend ein guter Wille da war. So gingen die von<br />

niedrigen Inseln überragten Wasserflächen in marschige Salzwiesen<br />

und schließlich in „terra ferma“, in Festland über.<br />

Obwohl sie weder Binnenseen noch offenes Meer waren,<br />

herrschten in den Lagunen die Gezeiten. Rund um die „Lidi“<br />

reinigte das Salzwasser die Lagune; wo die Flut nicht hingelangte,<br />

verfaulte alles zur toten Lagune. Das war der „rivus<br />

altus“, der „rialto“, so entstand Venedig, der Fluchtort, der<br />

Schutzort. Hierher konnte kein Feind kommen, kein Kriegsschiff.<br />

Die Hälfte der Zeit reichte hier das Wasser nur bis zum<br />

Nabel eines Menschen. Und der schlickige, sandige Grund<br />

war heimlich durchzogen von tiefen Rinnen, den Ausläufern<br />

der Bäche und Flüsse. Kriegerisches Fußvolk oder Reiterei<br />

hätten hier keine Chance gehabt. So baten sie nicht andere<br />

um Lebensraum, sie zwangen nicht andere, den Lebensraum<br />

mit Ihnen zu teilen, nein, sie schufen sich selbst ihren Lebensraum<br />

im Niemandsland, im Morast, im lebensunmöglichen<br />

Raum. So galt es erstens das Niveau der niedrigen, häufig<br />

von der Flut überspülten Inseln zu erhöhen. Die Flüchtlinge<br />

baggerten, nunmehr schon als Siedler, Sand aus der Lagune<br />

und fertigten Anschüttungen auf die natürliche Unterlage aus<br />

Muschelablagerungen, Seetang und Schlick. Als Nebeneffekt<br />

beseitigten sie dadurch Untiefen und gewannen geheime Kanäle.<br />

Den neuerworbenen Grund und Boden sicherten sie mit<br />

Weidengeflecht. Als zweiten Schritt galt es die Inselufer zu<br />

befestigen, deshalb trieben sie reihenweise Holzpfähle in den<br />

Schlamm. Um das bewerkstelligen zu können, errichteten sie<br />

zunächst mit breiten Brettern und Baumstämmen Sperren<br />

gegen die Lagune und schöpften den entstandenen Innenraum,<br />

die Baugrube, trocken. Von einem einfachen Gerüst<br />

aus schlugen nun jeweils zwei Mann die angespitzten Pfähle<br />

aus Eichen, Pappeln und Erlen in den morastigen Boden. Dazu<br />

benützten sie eine metallene Handramme, einen Zylinder mit<br />

seitlichen Griffen, der über den Stamm gestülpt und dann<br />

hämmernd in den Boden gerammt wurde. So konnten sie<br />

tausende solcher Pfähle dicht nebeneinander setzen und verbleibende<br />

Zwischenräume mit Lehm auskleiden. Schließlich<br />

wurden breite Bretter auf die flachen Pfahlenden genagelt,<br />

denn die Uferbefestigung war gleichzeitig die Voraussetzung<br />

für ein gemauertes Fundament. Dann wurde rasch die Eindämmung<br />

der Baugruben entfernt, denn das Allerwichtigste<br />

war, dass der Unterbau, das Fundament, stets von Wasser<br />

umspült wurde. Drang Luft an die Holzpfähle, verfaulten sie.<br />

Längst war aller Pioniergeist verblasst, die unermesslichen<br />

Mühen der Anfänge achtlos vergessen, aus der künstlichsten<br />

Stadt der Welt, aus unwiederholbarer Pracht, wieder eine<br />

morastige Kloake geworden. Diesmal jedoch nicht eine der<br />

natürlichen Umwelt, sondern vielmehr eine solche der Weltanschauung.<br />

Bis zur Verzückung ins eigene Spiegelbild verliebt zu sein, galt<br />

seit je her als geradezu selbstverständliche Eigenschaft dieser<br />

Stadt. Das Selbstwertgefühl sollte so weit gediehen sein,<br />

bis man von sich selbst entzückt war, sich des angenehmen<br />

Eindrucks nicht mehr erwehren konnte, den man von sich<br />

selbst hatte. Denn sogar die prunkvoll ziselierten Palastfassaden<br />

spiegelten sich doch ohne jeden Zweifel selbstgefällig im<br />

glitzernden Wasser der Kanäle und dieses wiederum in mit<br />

Goldstaub durchzogenen mehrstöckigen Lüstern, der auf sol-<br />

Essay

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