Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
VENEDIG|Dezember2016<br />
29<br />
wie kurze Flügel aus seinem oberen Rücken heraus. Auch<br />
die langen Ärmel seines Gewandes hingen lose an seinen<br />
dürren Armen, sodass sich die Knochen, vor allem die Ellenbogen,<br />
deutlich abzeichneten; und als ich den einen Arm<br />
mit den Augen bis zu der Stelle verfolgte, wo er in die Hand<br />
überging, die mit der anderen gemeinsam das Ruder hielt,<br />
erblickte ich lediglich zwei Knochengebilde ohne Haut oder<br />
Fleisch oder Muskeln. Es waren zwei Skeletthände, die das<br />
Ruder umklammerten, blendend weiß im Mondlicht, beinahe<br />
silbrig, und mir stockte der Atem!<br />
Und nun ging alles sehr schnell! Ich wusste nicht, was ich<br />
tun sollte, also sprang ich auf und hinaus aus der Gondel<br />
und hinein ins Wasser und schwamm! Ich schwamm weg,<br />
weg von der Gondel und diesem grässlichen Gondoliere,<br />
weg aus dieser Aura der Angst und des Zerrens an meinem<br />
Innersten! Weg! Weg! Ich wollte einfach nur weg und flüchtete,<br />
während ich Wasser schluckte und mir meinen Weg gegen<br />
eine leichte Strömung bahnte. Ich strampelte mit Händen<br />
und Füßen und wusste, ich durfte nicht zurückblicken!<br />
Ich strampelte und keuchte, während ich merkte, dass nach<br />
mir gegriffen wurde; irgendetwas versuchte immer wieder,<br />
einen meiner Knöchel festzuhalten, mich am Rumpf zu packen<br />
oder mir den Arm zurückzuziehen, während ich vorwärts<br />
schwamm. Es fühlte sich an wie Hände, glitschig und<br />
kalt, Hände aus einer unermesslichen Tiefe, dem Abgrund<br />
… Und ich wusste, ich durfte nicht zurückblicken! Ich durfte<br />
nicht zurückblicken!<br />
Irgendwann nach Mitternacht fischte man mich aus dem<br />
Wasser, wirres Zeug stammelnd und am ganzen Leibe zitternd.<br />
Ich will Ihnen die Details meines Nervenzusammenbruchs<br />
ersparen, es sei nur so viel gesagt, dass ich von<br />
Glück reden kann, nicht in eine Anstalt eingewiesen worden<br />
zu sein.<br />
Ich verbrachte zirka eine Woche in einem örtlichen Krankenhaus,<br />
denn nicht nur mein Geist war zerrüttet, ich hatte<br />
mir auch noch eine recht gefährliche Grippe eingefangen,<br />
die mich transportunfähig machte. Doch sowie es die Ärzte<br />
erlaubten, machte ich mich auf den Heimweg und kehrte<br />
meiner Story und Venedig den Rücken, für immer!<br />
Ich bin seither nie wieder dort gewesen, was ich heute sehr<br />
bedaure, denn es ist wirklich eine phantastische Stadt;<br />
doch ich konnte mich nie mehr überwinden, nach Venedig<br />
zu reisen, die Angst war zu groß.<br />
Ich glaube, es sind dann noch ein paar Touristen verschwunden,<br />
gleichsam vor ihrer Zeit abberufen worden. Ich will jedoch<br />
nicht über das Warum spekulieren – die Launen höherer<br />
(oder sehr alter) Mächte sollte man, denke ich, nicht<br />
hinterfragen, denn die Antworten würden dem Menschen<br />
nur seine eigene Nichtigkeit vor Augen führen.<br />
Ich schenkte den weiteren Vorfällen auch keine Aufmerksamkeit<br />
mehr, ich wollte vergessen, doch erfolglos. Die ganze<br />
Sache wurde jedenfalls nie aufgeklärt – Wie auch? –, und<br />
jetzt, nach dreißig Jahren, wird sich schwerlich noch jemand<br />
daran erinnern, außer vielleicht ein alter Mann, der noch seine<br />
Geschichte erzählen wollte, bevor er stirbt.<br />
Und ich sterbe bald, ich bin alt – und krank – und hatte<br />
ein erfülltes, glückliches Leben, doch diese Erinnerung lässt<br />
mich nicht mehr los:<br />
Ich hatte mir, als ich die Flucht aus der Gondel angetreten<br />
bin, fest vorgenommen, nicht zurückzublicken. Als ich in von<br />
Grauen heimgesuchter Eile wegschwamm und mich gegen<br />
die unsichtbaren Klauen aus dem Abgrund wehrte, sagte<br />
ich mir immer, ich dürfe nicht zurückblicken, ich dürfe nicht<br />
zurückblicken! Und ich wollte nicht zurückblicken! Ich wollte<br />
es nicht …<br />
Ich werde es nie vergessen: Dieses Grinsen jener weißen,<br />
blanken Zähne, blinkend und glitzernd im Mondlicht, und<br />
diese zwei schwarzen Höhlen, die mir fast sehnsüchtig, ja<br />
bittend hinterherstarrten, als würden sie mich auffordern<br />
wollen, doch meine Meinung zu ändern und mit ihm zu<br />
kommen … Doch meine Zeit war noch nicht abgelaufen, die<br />
Sanduhr mit meinem Namen darauf hatte noch einige Körnchen<br />
übrig.<br />
Jetzt ist sie es, die Körnchen sind beinahe alle nach unten<br />
gerieselt, und ich frage mich, ob, wenn ich endlich meinen<br />
letzten Atemzug holen werde, er mich abholen wird oder ein<br />
anderer. Ihn hätte ich jedenfalls schon bezahlt, doch es ist<br />
fraglich, ob er sich noch an mich erinnern kann.<br />
Ich jedenfalls habe den Fährmann nicht vergessen und erwarte<br />
ihn nun auf meinem Sterbebett.<br />
Lebt wohl!<br />
Daniel Weber<br />
Geb.1993 in Wien, ist diplomierter Schauspieler und studiert Deutsche<br />
Philologie an der Universität Wien. Dieses Jahr erschien, nach<br />
„Das verwunschene Bildnis“ 2013, sein zweiter Band mit Horrorerzählungen,<br />
„Der Kuss der Dämonin“, im Eigenverlag. Seit April<br />
2016 veröffentlicht er außerdem regelmäßig literarische Texte auf<br />
seiner Website weberdaniel.at. Gegenwärtig lebt er in Wolkersdorf<br />
im Weinviertel, Niederösterreich.<br />
Prosa