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VENEDIG|Dezember2016<br />

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wie kurze Flügel aus seinem oberen Rücken heraus. Auch<br />

die langen Ärmel seines Gewandes hingen lose an seinen<br />

dürren Armen, sodass sich die Knochen, vor allem die Ellenbogen,<br />

deutlich abzeichneten; und als ich den einen Arm<br />

mit den Augen bis zu der Stelle verfolgte, wo er in die Hand<br />

überging, die mit der anderen gemeinsam das Ruder hielt,<br />

erblickte ich lediglich zwei Knochengebilde ohne Haut oder<br />

Fleisch oder Muskeln. Es waren zwei Skeletthände, die das<br />

Ruder umklammerten, blendend weiß im Mondlicht, beinahe<br />

silbrig, und mir stockte der Atem!<br />

Und nun ging alles sehr schnell! Ich wusste nicht, was ich<br />

tun sollte, also sprang ich auf und hinaus aus der Gondel<br />

und hinein ins Wasser und schwamm! Ich schwamm weg,<br />

weg von der Gondel und diesem grässlichen Gondoliere,<br />

weg aus dieser Aura der Angst und des Zerrens an meinem<br />

Innersten! Weg! Weg! Ich wollte einfach nur weg und flüchtete,<br />

während ich Wasser schluckte und mir meinen Weg gegen<br />

eine leichte Strömung bahnte. Ich strampelte mit Händen<br />

und Füßen und wusste, ich durfte nicht zurückblicken!<br />

Ich strampelte und keuchte, während ich merkte, dass nach<br />

mir gegriffen wurde; irgendetwas versuchte immer wieder,<br />

einen meiner Knöchel festzuhalten, mich am Rumpf zu packen<br />

oder mir den Arm zurückzuziehen, während ich vorwärts<br />

schwamm. Es fühlte sich an wie Hände, glitschig und<br />

kalt, Hände aus einer unermesslichen Tiefe, dem Abgrund<br />

… Und ich wusste, ich durfte nicht zurückblicken! Ich durfte<br />

nicht zurückblicken!<br />

Irgendwann nach Mitternacht fischte man mich aus dem<br />

Wasser, wirres Zeug stammelnd und am ganzen Leibe zitternd.<br />

Ich will Ihnen die Details meines Nervenzusammenbruchs<br />

ersparen, es sei nur so viel gesagt, dass ich von<br />

Glück reden kann, nicht in eine Anstalt eingewiesen worden<br />

zu sein.<br />

Ich verbrachte zirka eine Woche in einem örtlichen Krankenhaus,<br />

denn nicht nur mein Geist war zerrüttet, ich hatte<br />

mir auch noch eine recht gefährliche Grippe eingefangen,<br />

die mich transportunfähig machte. Doch sowie es die Ärzte<br />

erlaubten, machte ich mich auf den Heimweg und kehrte<br />

meiner Story und Venedig den Rücken, für immer!<br />

Ich bin seither nie wieder dort gewesen, was ich heute sehr<br />

bedaure, denn es ist wirklich eine phantastische Stadt;<br />

doch ich konnte mich nie mehr überwinden, nach Venedig<br />

zu reisen, die Angst war zu groß.<br />

Ich glaube, es sind dann noch ein paar Touristen verschwunden,<br />

gleichsam vor ihrer Zeit abberufen worden. Ich will jedoch<br />

nicht über das Warum spekulieren – die Launen höherer<br />

(oder sehr alter) Mächte sollte man, denke ich, nicht<br />

hinterfragen, denn die Antworten würden dem Menschen<br />

nur seine eigene Nichtigkeit vor Augen führen.<br />

Ich schenkte den weiteren Vorfällen auch keine Aufmerksamkeit<br />

mehr, ich wollte vergessen, doch erfolglos. Die ganze<br />

Sache wurde jedenfalls nie aufgeklärt – Wie auch? –, und<br />

jetzt, nach dreißig Jahren, wird sich schwerlich noch jemand<br />

daran erinnern, außer vielleicht ein alter Mann, der noch seine<br />

Geschichte erzählen wollte, bevor er stirbt.<br />

Und ich sterbe bald, ich bin alt – und krank – und hatte<br />

ein erfülltes, glückliches Leben, doch diese Erinnerung lässt<br />

mich nicht mehr los:<br />

Ich hatte mir, als ich die Flucht aus der Gondel angetreten<br />

bin, fest vorgenommen, nicht zurückzublicken. Als ich in von<br />

Grauen heimgesuchter Eile wegschwamm und mich gegen<br />

die unsichtbaren Klauen aus dem Abgrund wehrte, sagte<br />

ich mir immer, ich dürfe nicht zurückblicken, ich dürfe nicht<br />

zurückblicken! Und ich wollte nicht zurückblicken! Ich wollte<br />

es nicht …<br />

Ich werde es nie vergessen: Dieses Grinsen jener weißen,<br />

blanken Zähne, blinkend und glitzernd im Mondlicht, und<br />

diese zwei schwarzen Höhlen, die mir fast sehnsüchtig, ja<br />

bittend hinterherstarrten, als würden sie mich auffordern<br />

wollen, doch meine Meinung zu ändern und mit ihm zu<br />

kommen … Doch meine Zeit war noch nicht abgelaufen, die<br />

Sanduhr mit meinem Namen darauf hatte noch einige Körnchen<br />

übrig.<br />

Jetzt ist sie es, die Körnchen sind beinahe alle nach unten<br />

gerieselt, und ich frage mich, ob, wenn ich endlich meinen<br />

letzten Atemzug holen werde, er mich abholen wird oder ein<br />

anderer. Ihn hätte ich jedenfalls schon bezahlt, doch es ist<br />

fraglich, ob er sich noch an mich erinnern kann.<br />

Ich jedenfalls habe den Fährmann nicht vergessen und erwarte<br />

ihn nun auf meinem Sterbebett.<br />

Lebt wohl!<br />

Daniel Weber<br />

Geb.1993 in Wien, ist diplomierter Schauspieler und studiert Deutsche<br />

Philologie an der Universität Wien. Dieses Jahr erschien, nach<br />

„Das verwunschene Bildnis“ 2013, sein zweiter Band mit Horrorerzählungen,<br />

„Der Kuss der Dämonin“, im Eigenverlag. Seit April<br />

2016 veröffentlicht er außerdem regelmäßig literarische Texte auf<br />

seiner Website weberdaniel.at. Gegenwärtig lebt er in Wolkersdorf<br />

im Weinviertel, Niederösterreich.<br />

Prosa

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