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52 VENEDIG|Dezember2016<br />
Prosa<br />
wenig durchs APA-Archiv, scrollt über Bilder von Flüchtlingen,<br />
unter anderen über das Bild eines ertrunkenen<br />
Kindes am Strand, das traurige Berühmtheit erlangt hat.<br />
Manche Bilder werden zu Symbolen. Die Zahl der 62 wird<br />
wahrscheinlich auch so ein Symbol. Oder auch nicht, wer<br />
weiß das schon vorher. Kommt darauf an, was sonst noch<br />
alles passiert. Irgendwie hängt alles mit allem auf eine<br />
Weise zusammen, dass einem schwindlig werden könnte.<br />
Die Welt ist auf Sand gebaut und wartet wie Venedig auf<br />
den Untergang. Oder rutscht dir sonstwie unter den Füßen<br />
weg. Schneller als Venedig werden wohl ohnehin die Malediven<br />
untergehen. Die Regierung schmiedet bereits Pläne<br />
für die Evakuierung. Es braucht Land, Grundstücke, Verträge,<br />
verbrieftes Recht, damit nicht eine ganze Nation zum<br />
Almosenempfänger wird. ||| Grundregel des Kapitalismus:<br />
Rechtzeitig drauf schauen, dass mans hat, wenn mans<br />
braucht. ||| Die Katze streicht schon seit einer Weile um<br />
die Beine der Journalistin und bettelt nach Futter. Geschäftig<br />
und zufrieden gurrend läuft sie voraus, als ihr Frauchen<br />
sich auf den Weg in die Küche macht und sitzt schon majestätisch<br />
erwartungsvoll neben ihrem Schüsserl, bevor die<br />
Lade mit dem Trockenfutter aufgeht. Nur eine kleine Handvoll,<br />
nicht immer nur ans Fressen denken! Die Nachrichtenredakteurin<br />
holt ein Stück Tiramisu für sich selbst aus<br />
dem Kühlschrank (ein richtiges mit Mascarpone) und kehrt<br />
an den Schreibtisch zurück. Es fühlt sich fast wie Urlaub<br />
an, einmal einen Tag zu Hause zu arbeiten. Langsam lässt<br />
sie die Gabel in die weichen Schichten dringen. So soll<br />
auch der Artikel werden, so dass sich das Thema Schicht<br />
für Schicht von der Oberfläche in die Tiefe erschließt. Und<br />
auf der Zunge soll der Text zergehen, wie der Bissen, den<br />
sie nun genüsslich von der Gabel schleckt. ||| che sarà<br />
della mia vita? ||| Sie lehnt sich kurz zurück, zieht die<br />
Schulterblätter nach hinten, kippt dann ihren Oberkörper<br />
entschlossen nach vorne und beginnt zu tippen.<br />
Die Schriftstellerin beobachtet ihren Kommissar aus den<br />
Augenwinkeln. Er scheint angestrengt nachzudenken. Im<br />
Hintergrund ist eine perfekte Kulisse zu sehen: In der Ferne<br />
die Stadt, auch einzelne touristische Sehenswürdigkeiten<br />
(wie der Campanile) kommen ins Bild, im Vordergrund hingegen<br />
eine Location, die sich eher industrial ausnimmt und<br />
die Wasserleiche dementsprechend stimmungsvoll rahmt.<br />
Eine Ertrunkene in einem verlassenen Hafengelände fügt<br />
sich perfekt in die Landschaft. Auch alte Fabrikshallen<br />
sind immer gut für einen Mord und einen Leichenfund.<br />
Überhaupt Abbruchhäuser aller Art. Aber ist das nicht<br />
zu vorhersehbar? Wäre nicht genau deshalb ein belebter,<br />
schöner, touristischer Ort viel besser? Zusammen mit der<br />
Gewissheit, dass sich in aller Öffentlichkeit, mehr oder weniger<br />
vor aller Augen, etwas Tragisches abgespielt hat …<br />
und niemand hat es bemerkt, niemand ist eingeschritten,<br />
niemand hat geholfen. Game over, ein Leben ist zu Ende,<br />
aber es gibt keinen Neustart. Es gibt nur noch viele, viele<br />
andere Menschen auf der Welt, die alle ihre eigenen Sorgen<br />
haben.<br />
Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich. (Das<br />
wusste schon Erich Kästner.)<br />
Man kann auch in einer Pfütze ertrinken.<br />
Aber im Meer ist es wahrscheinlicher.<br />
Die Statistik wiederum sagt bekanntlich nichts über den<br />
Einzelfall aus.<br />
Einzelfälle sind einzigartig, werden in ihrer Einzigartigkeit<br />
aber gerne zu Gruppen zusammengefasst, weil wir sonst<br />
vor lauter Einzigartigkeiten den Überblick verlieren. So beginnt<br />
der Kommissar den Fall seiner Wasserleiche, die man<br />
aus dem Rio de la Canonica (kurz vor der Mündung in den<br />
Canal Grande) herausgezogen hat, mit anderen Fällen von<br />
anderen Leichen aus anderen Gewässern zu vergleichen.<br />
Und er zieht Schlüsse aus den Vergleichen. Ob ihn diese<br />
Schlüsse zur Lösung des Falles führen, wird sich weisen.<br />
Manche davon werden wohl zunächst einmal auf Abwege<br />
und in Sackgassen führen. Er wird ein paar zu voreilige<br />
Schlüsse sicher revidieren müssen, mehr herausfinden,<br />
neue Schlüsse ziehen, damit das Bild differenzierter wird<br />
und der Wahrheit näher kommt. Er muss komplexer denken,<br />
mehr Faktoren einbeziehen, den Fall aus den Gruppen<br />
herauslösen und wieder einzigartig werden lassen. Nur so<br />
wird er ihn lösen können.<br />
Das Boot schwankt. Du frierst. Die anderen wohl auch,<br />
aber ihr redet schon seit einer Weile nicht mehr. Alle sind<br />
in der Hölle ihrer eigenen Gedanken gefangen. Du bist<br />
wieder einmal am Ertrinken. Allmählich hast du dich an<br />
die Vorstellung gewöhnt. Das Wasser kann nicht mehr viel<br />
kälter sein als der Wind und die kalte Luft, die euch umgibt.<br />
Wenn man erfriert, dann wird einem am Ende wieder<br />
warm, heißt es. Kurz bevor man stirbt, fühlt man sich<br />
wieder gut, heißt es … und dann will man gar nicht mehr<br />
zurück ins Leben. Das ist vielleicht so wie der Moment<br />
vor dem Einschlafen: Vielleicht ist noch ein bisschen Neu-