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70 Rezensionen<br />
70 VENEDIG|Dezember2016<br />
Michael Köhlmeier:<br />
Das Mädchen<br />
mit dem Fingerhut<br />
Roman, Hanser<br />
2016, 140 Seiten<br />
ISBN: 978-3-446-25055-0<br />
C. Busch, S.Hördler,<br />
R. Jan van Pelt / Hg.:<br />
Auschwitz<br />
durch die Linse der SS<br />
Philipp von Zabern Verlag<br />
2016, 340 S.<br />
ISBN 978-3-8053-4958-1<br />
Francesco Del Romano:<br />
Der Blumenwolf<br />
Norderstedt, BoD<br />
2016, 48 S.<br />
ISBN 978-3-7412-5617-2<br />
Eine Weihnachtsgeschichte. Einmal mehr vermag<br />
es Michael Köhlmeier als erstklassiger Erzähler zu beeindrucken.<br />
Mit dem vorliegenden Roman hat er das<br />
Buch der Stunde zum Thema Flüchtlinge geschrieben.<br />
Denn bekanntlich sind es immer häufiger Kinder, die<br />
völlig alleine aus den Krisenregionen nach Europa<br />
flüchten. Laut Statistik erreichten 2015 fast 10.000<br />
dieser unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge Österreich.<br />
Der Roman spielt in einer großen Stadt irgendwo in<br />
Westeuropa. Ein kleines Mädchen hat alles verloren –<br />
nicht einmal sein Name ist bekannt. Es versteht kein<br />
Wort der Sprache, die man hier spricht, aber wenn<br />
jemand „Polizei“ sagt, beginnt es zu schreien. In einem<br />
Heim lernt es zwei kaum ältere Buben kennen, auch<br />
deren Sprache ist ihm fremd. Aber sie sind genauso<br />
allein wie das Mädchen und gemeinsam begeben sie<br />
sich auf die Suche nach einer neuen Heimat. Damit beginnt<br />
ein dramatischer Überlebenskampf gegen Hunger<br />
und Kälte, ein Leben am Rande der Gesellschaft,<br />
das der Autor atmosphärisch dicht, voll archaischer<br />
Wucht beschreibt, ohne jemals ins allzu Pathetische<br />
abzugleiten.<br />
Köhlmeier erzählt eine ganz leise Geschichte voller<br />
Poesie – fast wie ein Märchen. Manche mögen sie<br />
berührend wie eine Weihnachtsgeschichte von Charles<br />
Dickens finden.<br />
Ein Happy End sollte sich der Leser, die Leserin allerdings<br />
nicht erwarten. Köhlmeier bleibt der Realität<br />
verbunden und das ist gut so. Es lässt sich auch gar<br />
nicht mit Sicherheit sagen, worin genau ein solches<br />
Happy End bestehen würde.<br />
Ein kurzer Roman von knapp 140 Seiten, der aber lange<br />
zu denken gibt.<br />
Gertraud Artner<br />
Die Banalität des Bösen. Die Täter führten nicht nur<br />
gewissenhaft Buch über die Organisation in den Konzentrations-<br />
und Vernichtungslagern, es gab daneben<br />
auch noch die privaten Fotoalben der SS, in denen sie<br />
- quasi zur Erinnerung - ihre „Arbeit“ und Freizeitgestaltung<br />
liebevoll ausgeschmückt dokumentierten. In<br />
diese Kategorie fällt das „Höcker-Album“. Als Adjutant<br />
des letzten Kommandanten von Auschwitz-Birkenau<br />
genoss Karl Höcker eine einzigartige Perspektive auf<br />
diejenigen, die den Lagerbetrieb organisierten. Wir<br />
sehen die „Belegschaft“ beim gemütlichen Beisammensein,<br />
beim Betriebsausflug, beim Entzünden der „Jultanne“<br />
zu Weihnachten...ganz harmlos und trivial. Aber<br />
Höckers Bilder entstanden zwischen Juni und Dezember<br />
1944 in Auschwitz, während die Tötungsmaschinerie<br />
auf Hochtouren lief, zu dieser Zeit etwa die berüchtigte<br />
Auschwitzer „Ungarn-Aktion“, in der mehr als 300 000<br />
ungarische Juden vergast wurden.<br />
Die Bilder verstören zutiefst, man fühlt sich an Hannah<br />
Arendts Bezeichnung „Banalität des Bösen“ erinnert,<br />
mit der sie ihre Eindrücke vom Eichmann-Prozess in<br />
Jerusalem 1961 zusammenfasste. Und dann hört man<br />
immer wieder, dass irgendwann Schluss sein müsse<br />
mit der „Vergangenheitsbewältigung“. Demgegenüber<br />
betont Sara J. Bloomfield (Leiterin des United States<br />
Holocaust Memorial Museum) in ihrem Vorwort die<br />
aktuelle Bedeutung des Höcker-Albums, da es uns „die<br />
beängstigende wie elementare Wahrheit aufs Neue bewusst<br />
macht: Das Unvorstellbare ist immer vorstellbar<br />
– und das zu jeder Zeit, an jedem Ort, in jedem Volk“.<br />
Im Band werden die 116 Fotos mit knappen aufschlussreichen<br />
Kommentaren versehen. Acht begleitende<br />
Aufsätze liefern vertiefende Informationen zu den Personen,<br />
zu Auschwitz und zum Stellenwert des Höcker-<br />
Albums für die wissenschaftliche Forschung.<br />
Gertraud Artner<br />
Ein Debütwerk der romantischen Sehnsucht.<br />
Geboren wurde der Autor in Steyr, maturierte in Wels und<br />
studierte Italienisch und Geschichte an der Universität<br />
Salzburg. Aufgrund des einjährigen Studienaufenthaltes<br />
in Perugia liegen diesem Lyrikband viele Gedanken an<br />
den und aus dem Süden sowie das Pseudonym Franceso<br />
Del Romano zugrunde. Italienaffin, mit einem Hang zu<br />
Schwermut und romantisierender Liebe oder Natur gibt<br />
er sein Innerstes preis. Der Kampf mit der Erinnerung an<br />
vergebliche Liebe - Motto: „Die Liebe ist ein freudvolles<br />
und gefährliches Spiel“ S. 31 oder Schicksalsschläge -<br />
Motto: … die „Irrfahrt, die mein Leben bedeutet“ S. 20<br />
klingen resignierend, sind es aber letztendlich nicht. Denn<br />
Hoffnung lauert überall: Der Schlussakkord S. 46 lautet<br />
nämlich: „In jenen Tagen waren meine Gedanken bei einer<br />
reichen Blüte, mein Herz erfüllt von Blumenduft.“<br />
So ist auch das titelgebende Gedicht „der Blumenwolf“<br />
mit den Assoziationen versehen, dass Blumen Positives<br />
bringen. Der Blumenwolf ist das Tier – alias ein Dichter<br />
- , das dräuende Gedanken genauso wie sehnsüchtige im<br />
Gemüt hat. Allerdings versteckt er sich feige im Wald und<br />
ist sich selbst Wolf genug.<br />
Dem Autor und Dichter wünschen wir natürlich, dass er<br />
aus dem Wald flieht und stark seine Worte in die Welt<br />
fetzt!<br />
Ernst Jandl wäre voriges Jahr 90 Jahre gewesen, und aus<br />
diesem Grunde gab sein Verleger und Verlagslektor, Klaus<br />
Siblewski, 2016 eine neue Anthologie und 2015 die Liebesgedichte<br />
Jandls als Taschenbuch (als billiges Taschenbuch,<br />
denn Jandl wollte stets ein breites Leserspektrum<br />
haben) im Inselverlag heraus. Hier findet der Leser natürlich<br />
das starke Kontrastprogramm. Er kann intelligent<br />
schmunzeln! Findet jedoch auch in dieser Liebeslyrik die<br />
sachliche Betrachtung, dass Liebe sogar für den Sprachkünstler<br />
und -witzler Jandl Zuflucht und Halt sei.<br />
Bei der Lyrik Francesco Del Romanos findet er genauso<br />
Beistand, tröstende Worte, kann sich laben und gesunden!<br />
Eva Riebler-Übleis