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50 VENEDIG|Dezember2016<br />

Prosa<br />

Sabine Dengscherz<br />

C‘era una volta nel mare<br />

Wasser. Überall Wasser. Es riecht modrig nach nassem<br />

Holz und Fisch. Und nach Nebel. Wenn du untertauchst,<br />

siehst du grüne Algen auf grauen Mauern und schwarzen<br />

Pfählen. Die Pflanzen schwingen hin und her, her und hin,<br />

gleichgültig sachte. Deine Haare schwingen wie die Algen,<br />

sind Teil des neuen Elements, schweben und schwimmen<br />

in fließenden Übergängen hin und her, her und hin wie in<br />

Zeitlupe. Der Widerstand des Wassers dämpft alles, die<br />

Geräusche, das Licht, die Gedanken, die Geschwindigkeit.<br />

Jede äußerliche Bewegung verlangsamt … schnell und laut<br />

klopft nur dein Herz, eine innere Antwort auf die Kälte, die<br />

dir die Luft abschnürt. Wenn du untertauchst, spürst du<br />

sie weniger. Unter Wasser ist alles Leben in algiges Grün<br />

getaucht, ein Aquarell aus kühlen Farben, verschwommen,<br />

zerflossen. Und darüber ein graues Aerosol, Meer<br />

als Schwebeteilchen, Nebeldunst. Unter Wasser ist es<br />

schöner. Unter Wasser ist Frieden. Lass dich fallen und die<br />

Stadt gehört dir. Lass einfach los und werde eins mit allen<br />

Elementen … lass dich sinken … … … und alles wird gut …<br />

… …<br />

Game over.<br />

Wieder ein Leben weniger.<br />

Das Spiel ist aus.<br />

Neustart.<br />

Die Katze schreitet über den Schreibtisch und schmiegt<br />

sich an den Bildschirm. Sie hält den Kopf schräg und<br />

schaut geradeaus. Dann hebt sie eine Tatze und berührt<br />

die Tasten. Zögerlich erst, dann bestimmter, schneller, verspielter.<br />

Sie geht auf der Tastatur auf und ab, ab und auf.<br />

Manchmal setzt sie sich auf die Hinterbeine und versucht<br />

die Zeichen zu fangen, die auf dem Bildschirm erscheinen.<br />

Dann versinkt sie wieder völlig in ihrem Schreibfluss. Sie<br />

ist eine Göttin.<br />

Die Schriftstellerin schlendert am Ufer entlang, den Blick<br />

auf ihren Kommissar geheftet, der sich über eine nasse<br />

junge Frau beugt. Ihre langen Haare klatschen auf das<br />

Pflaster. Noch haben sie keinen Raureif angesetzt, sie<br />

kann noch nicht lange hier liegen. Der Kommissar hebt<br />

den Kopf und sieht die Gerichtsmedizinerin an. Es ist ein<br />

fragender Blick. Die Ärztin beginnt zu sprechen.<br />

Wasser. Überall Wasser. Das Boot schwankt über die Wellen.<br />

Du hast keine genaue Vorstellung davon, wo ihr seid.<br />

Irgendwo zwischen zu Hause und Europa. Das Zuhause<br />

gibt es nicht mehr, und Europa ist weit weg, irgendwo jenseits<br />

des Nebels. Alles schwarz um euch. Woher wissen<br />

die, wo sie hinschippern? Wissen sie es überhaupt? Früher<br />

– das ist jetzt unvorstellbar weit weg – hast du geträumt<br />

vom Meer und von Booten. Es waren schöne Träume, voller<br />

Sehnsucht, durchzogen von Erinnerungen an glückliche<br />

Momente. Jetzt stellst du dir vor, wie es sich anfühlen<br />

würde, wenn das Boot untergeht. Schreie zuerst, Chaos,<br />

Durcheinander, dann wird es stiller und stiller. Du denkst<br />

in Filmszenen. Aber euer kleines Boot hätte nicht so einen<br />

Sog wie die Titanic. Es wäre einfach nur weg. Ihr würdet<br />

schwimmen, solange ihr könnt, einander zurufen, bis ihr<br />

keine Kraft mehr habt. Du würdest untergehen. Du spürst<br />

es schon kalt und nass an deinem Körper, strampelst, so<br />

fest du kannst, aber der Widerstand des Wassers dämpft<br />

alles, dein Gerangel mit dir selbst, die Geräusche, das<br />

Licht, die Gedanken, die Geschwindigkeit. Jede äußerliche<br />

Bewegung verlangsamt – schnell und laut klopft nur dein<br />

Herz, eine innere Antwort auf die Kälte, die dir die Luft<br />

abschnürt. Wenn du untertauchst, spürst du sie weniger.<br />

Unter Wasser ist alles … du ziehst deine Schwimmweste<br />

fester um dich und versuchst, die Bilder durch andere zu<br />

ersetzen: Schnitt ||| Ein Strand mit Palmen, es scheint<br />

die Sonne, ihr zieht das Boot ans Ufer. ||| Schnitt |||<br />

Der Strand und die Sonne versinken im Meer und es wird<br />

finster, nass und kalt. Wasser. Überall Wasser. ||| Schnitt<br />

||| … ||| Schnitt ||| … ||| Schniiiitttttt !!!! ||| Andere<br />

Bilder müssen her! … und sie müssen halten … Wie kriegst<br />

du die Bedrohung heraus aus der Konstellation von Wasser,<br />

Nacht und Boot? – – – Lachende Menschen in einem<br />

winzigen Kahn, alle glücklich und in Sicherheit, ganz ohne<br />

Schwimmwesten gleiten sie in einen städtischen Abend.<br />

Das ist aus einem Dokumentarfilm über eine Stadt am<br />

Wasser und im Wasser, sie nannten sie das Venedig des<br />

Nordens oder das Venedig des Ostens oder so ähnlich. Ja,<br />

Amsterdam, das wäre auch ein Ort auf deiner Liste. … Irgendwann<br />

wird alles gut. Irgendwann hast du die Dinge<br />

wieder im Griff. Und jetzt nimmst du wenigstens deine Gedanken<br />

wieder in die Hand, das ist schon mal was. Noch<br />

ein paar Filmbilder, und dann eine Erinnerung an selbst<br />

Erlebtes im „echten“ Venedig. Lang ist es her. Du bist noch<br />

ein Kind und hast dir die Gondelfahrt gewünscht. Deine<br />

Eltern sitzen dir gegenüber, hinter ihrem Rücken siehst du

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