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VENEDIG|Dezember2016<br />

21<br />

zum offenen Meer führenden Kanäle auszumessen und herauszufinden,<br />

welche Dalbenstrassen in der Lagune für größere<br />

Schiffe passierbar sind. Ist man zu feige und gierig geworden<br />

und doch zu bewegungslos in Kriegsdingen? Musste<br />

man Angst haben, möglicherweise von der Nachwelt dafür<br />

ausgepfiffen zu werden? Hier durfte der schöne Schein nicht<br />

von der Sicht auf die Dinge ablenken. Jetzt halfen nicht gekaufte<br />

Zurufer und Claqueure, jetzt müsste man tatsächlich<br />

eine bella figura machen. Was half es jetzt ein „libertino“ zu<br />

sein, der sich stets von den herrschenden Ideen mehr als von<br />

einer inzwischen verschütteten eigenen Fantasie inspirieren<br />

lässt. Denn die Fantasie ist nicht nur von Geilheit sondern vor<br />

allem von Angst verschüttet. Denn wann immer ein Toter im<br />

„Canale Orfano“ treibt, der von San Marco aus durch die Lagune<br />

ins offene Meer führt, und es sind deren viele, heißt es,<br />

strangulierende Auftragsmörder seien wieder am Werk gewesen<br />

oder gedungene Giftmörder, die sich nirgendwo so auf ihr<br />

Handwerk verstünden wie in Venedig. Den schrecklichsten<br />

der Schrecken verbanden die Venezianer aber mit dem Gedanken<br />

an die Furcht vor dem „Rat der Zehn“. In einem nahezu<br />

uneinsehbaren Raum im dritten Obergeschoss des Dogenpalastes<br />

tagte turnusmäßig jener „Eccelso Consiglio dei<br />

Dieci“, der „Erhabene Rat der Zehn“, der Venedigs Geheimtribunal<br />

und dem dazugehörigen Geheimdienst vorstand. Seine<br />

Mitglieder waren oberste Richter und Ankläger in einem. Hier<br />

wurden diplomatische und geheimdienstliche Berichte ausgewertet,<br />

Hinterbringungen von Spitzeln und Denunzianten.<br />

Denn wer wollte, verstand es, Machteinrichtungen für sich<br />

geschickt auszunützen, konnte hier, wie nirgendwo sonst, seine<br />

Rache nach Lust und Laune befriedigen. Hier wurden Haftbefehle<br />

ausgestellt, peinliche Verhöre durchgeführt und in<br />

Auftrag gegeben und gedungene Mörder entsandt bis weit<br />

über die Grenzen Venedigs. Man hat sich darauf verstanden,<br />

im Geiste der Machtausübung und der Hinterlist die Ordnung<br />

zu sichern, da die offene Austragung und Sicherung des<br />

Rechts unkalkulierbar, unpraktikabel erschien, weil man die<br />

Hintermänner der Bedrohung für die Serenissima nicht kenne.<br />

Warum Truppen und viele Argumente ins Treffen führen,<br />

langen Prozess machen, wenn der kurze Prozess eines gedungenen<br />

Auftragsmörders den gleichen Effekt erzielt. Jedes<br />

Jahr wurden vom „ Consiglio grande e generale“, dem großen<br />

Rat, zehn „nobili“ in den „Consiglio dei Dieci“ gewählt und<br />

berufen. Es war ausdrücklich ausgeschlossen, dass zwei Mitglieder<br />

ein und derselben Familie dorthin berufen werden,<br />

damit keine Sippe in diesem heiklen Gremium zu mächtig<br />

wird. Drei Vorsitzende wählte der „Rat der Zehn“ aus den eigenen<br />

Reihen, von denen jeder jeweils einen Monat im Amt<br />

blieb. Neben den Zehn gehörten der Doge selbst und seine<br />

sechs Ratgeber dem Rat an, weshalb der Rat der Zehn eigentlich<br />

der Rat der Siebzehn war. Innerhalb dieses geheimen<br />

Zirkels wurde ein noch geheimerer Zirkel gebildet<br />

und mit besonderer umfassender Macht ausgestattet: drei<br />

Staatsinquisitoren als ranghöchste Ermittler. Von den zehn<br />

eigentlichen Ratsmitgliedern werden zwei in dieses Gremium<br />

entsandt, der dritte wird aus dem Kreis der sechs Räte<br />

des Dogen gewählt. Wer Hochverräter ist, bestimmt allein<br />

dieses Gremium. Es wird spioniert, dechiffriert, es werden<br />

abgefangene Briefe ausgewertet und archiviert, Informanten<br />

angeheuert und deren Berichte entschlüsselt. Gnadenfristen<br />

sind meist ein Bestandteil der psychologisch<br />

trickreichen Inszenierung einer raschen Exekutierung. Man<br />

beginnt Verhöre oftmals wie Konversationen und Verhandlungen,<br />

wiegt den Inkriminierten in Sicherheit. Höflich wird<br />

vorerst über allgemeine Fragen parliert, sodass der Vorgeladene<br />

mit Staunen Mut fasst und die Welt nicht mehr verstehen<br />

kann, wieso dem Rat der Zehn eine solch furchterregende<br />

fama vorauseilt. Doch wenn man glaubt, längst<br />

gehen zu können und nicht mehr stehen zu müssen vor dem<br />

Rat der Zehn, in jenem holzvertäfelten Raum, direkt oberhalb<br />

jener Brücke, die von den Neuen Gefängnissen in den Dogenpalast<br />

führt, und in welchem sich in geschnitzten, vergoldeten<br />

Rahmen fünfundzwanzig Deckengemälde befinden, in deren<br />

Mittelpunkt Veroneses Bild des Gottes Jupiter, welcher seine<br />

Blitze gegen das Laster schleudert, während man also glaubt,<br />

einfach gehen zu dürfen, in dieser Annahme geradezu bestärkt<br />

durch die indifferente Höflichkeit der Ratsmitglieder, jener<br />

Richter, die gleichzeitig Ankläger und alles in einem sind, und<br />

da vorne auf einem halbrunden hölzernen Podest thronen,<br />

wird man kommentarlos und unversehens auch schon auf<br />

kürzestem Wege, nämlich über die „Seufzerbrücke“, in den<br />

gegenüberliegenden Kerker, die „Bleikammern“ befördert.<br />

Denn kriminalistische Untersuchungen gehen nahtlos in Anklage<br />

und ebenso nahtlos in einen Urteilsspruch über, ohne<br />

dass die Angeklagten überhaupt davon Kenntnis erlangen.<br />

Wer vor dem „Rat der Zehn“ steht, erfährt meist nicht einmal<br />

das volle Ausmaß der Anklage gegen sich. Er erfährt auch nie,<br />

wer ihn angezeigt hat. Und er hat vor allem keinen Verteidiger.<br />

Die prozessuale Verteidigung ist den Venezianern unbekannt.<br />

Der Rat fasst Beschlüsse, „parti“, die zusammen mit<br />

allfälligen Beweisstücken zu den geheimen Akten gelegt werden.<br />

Und Auftragsmorde sollen immer den Anschein erwecken,<br />

als seien sie keineswegs auf höhere Anordnung erfolgt.<br />

Essay

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