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VENEDIG|Dezember2016<br />

53<br />

gier da, wie der Film weitergeht, aber keine Kraft mehr<br />

für das Schauen, die Augen fallen zu, es gibt nur noch<br />

Stimmen, aber auch die erscheinen immer weiter weg.<br />

Und dann lässt du dich fallen in deine eigene innere Welt.<br />

Ob dir der Moment bewusst werden wird, wenn diese innere<br />

Welt für immer versinkt, für immer verstummt? Fragen<br />

über Fragen, und die Antwort willst du eigentlich gar<br />

nicht wissen. Nicht jetzt. Das Boot schwankt, du frierst.<br />

Du stellst dir vor, dass du durch die Kanäle von Venedig<br />

treibst … du liegst am Rücken im Wasser und lässt dich<br />

unter der Seufzerbrücke durchgleiten, in Sicherheit (aber<br />

es ist trotzdem ein bisschen unheimlich). Es riecht modrig<br />

im falschen Song! – ¿kommt dir das nicht spanisch vor?<br />

– ¿na und? … Whatever will be, will be.<br />

Die Katze springt mit einem Satz auf den Tisch und bringt<br />

die Tasse ins Schwanken. Die Journalistin kann in letzter<br />

Sekunde einen Kaffee-Tsunami über ihren Laptop verhindern<br />

und hat kaum Zeit zu fauchen oder zu schimpfen, da<br />

wird ihr schon liebevoll um die Arme gestrichen, zwängt<br />

sich jemand zwischen Tischkante und Bauch, rollt sich<br />

ein auf ihrem Schoß. An Weiterschreiben ist jetzt nicht zu<br />

denken. Also Pause zum Nachrichten schauen … Frontex-<br />

Leute haben wieder einmal Leute aus dem Meer gefischt<br />

… und ein Grenzzaun versperrt den Landweg zwischen<br />

der Türkei und Griechenland mit NATO-Stacheldraht, ein<br />

Familienvater meint, dass man ihn und alle anderen auf<br />

diese Weise aufs Meer treibt, dass sie ihr Leben riskieren<br />

müssen um weiterzukommen. Wo ein Wille ist, ist auch<br />

ein Weg.<br />

Der Kommissar ist vorübergehend am Ende seiner – eben<br />

auch nicht unbegrenzten – Weisheit angelangt und macht<br />

Feierabend. Nun schlendert er über den Markusplatz,<br />

gleichgültig an der Schriftstellerin vorbei, die mit einem<br />

Buch im Schatten sitzt und ihn ebenfalls nicht beachtet.<br />

Wie es weitergeht? Das wird sich weisen. Che sarà – sarà.<br />

nach nassem Holz und Fisch. So riecht Land. Du hast es<br />

geschafft. Wenn du wieder untertauchst, siehst du grüne<br />

Algen schwingen, hin und her, hin und her, ganz sachte,<br />

uninteressiert an dir und potentiellen anderen. Deine<br />

Haare sind auch wie Algen, sie haben sich angepasst an<br />

das neue Element, schweben und schwimmen, wechseln<br />

die Richtung in fließendem Übergang und wie in Zeitlupe.<br />

Du lässt dich an die Mauer gleiten, befühlst die grünen Algen<br />

auf dem grauen Stein. Je länger du darüberstreichst,<br />

desto kälter und glatter wird das Grau, es sind gar keine<br />

Algen dran, es ist ein Schiff … ||| ein militärgraues Schiff<br />

||| … lass dich fallen … ||| che sarà? ||| es hat keinen<br />

Namen, nur eine Nummer … ||| della mia vita? ||| …<br />

bald bist du auch eine Nummer … auf einem Formular mit<br />

Fingerabdrücken … ||| che sarà della mia vita? ||| lass<br />

dich fallen … Das kann ein Ende sein oder ein Anfang.<br />

Qué será, será. – – – – – ¡hola! verschwinde! – – ¡du bist<br />

Però … che sarà questa sera? Die Welt schwankt. ||| che<br />

sarà della mia vita? ||| Deine Zukunft versinkt in dichtem<br />

Nebel. Alles verschwommen, wie durch Glas oder Wasser.<br />

Alles ist gedämpft, die Geräusche, das Licht, die Gedanken.<br />

Stimmen, viele Stimmen, weit weg. Es ist nass und<br />

kalt. Jede äußere Bewegung dehnt sich wie in Zeitlupe –<br />

rasend schnell und laut klopft nur dein Herz, eine Antwort<br />

auf die Angst, die dir die Luft abschnürt. Aber wenn du<br />

untertauchst, spürst du sie weniger. Du wirst unsichtbar,<br />

eins mit der Welt, die dich umgibt. Und du lässt dich fallen<br />

… … … einfach fallen … … … in alles, was da kommen mag.<br />

Sabine Dengscherz<br />

Geb.1973 in Grieskirchen, OÖ. Studium der Germanistik, Publizistik<br />

und Hungarologie in Wien. Promotion 2005. Universitätslektorin,<br />

Schreib- und Mehrsprachigkeitsforscherin, Präsidentin<br />

des Österreichischen Verbands für Deutsch als Fremdsprache/<br />

Deutsch als Zweitsprache (ÖDaF). Literarische Publikationen seit<br />

2003. Lebt in Wien und Dénesfa (Ungarn). www.dengscherz.at<br />

Prosa

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