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VENEDIG|Dezember2016
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Ingrid Reichel
Venezianisches „Kitschee“
Eine Doppelconférence über La Serenissima Repubblica di
San Marco - die allerdurchlauchteste Republik des Hl. Markus
- Attention, please! Adrianische Küstenbewohner flüchten
vor den Westgoten auf die Lagunen. Gründen die Stadt 421.
- Ich nehme an, nach Christus.
- Wie, nach Christus? Die ganze Geschichtsschreibung ist auf
christliche Werte aufgebaut!
- Check! Da lob ich mir die Paläontologinnen!
- Sì! Die schreiben das Jahr NULL ab 1950.
- Bravissimo!
- Ab 1950 gilt BP, Before Present, my dear! Avant aujourd‘hui!
Vor heute!
- Und heute ist 1950?
- Sì! Nach dem 2. Weltkrieg, après la seconde guerre mondiale,
la seconda guerra mondiale! Capite?
- Ho capito, non British Petrol!
- Sì !
- Dazwischen ist aber viel Wasser ins Sumpfgebiet geflossen.
- Sì, zwischen Süß- und Salzwasser, zwischen Ebbe und Flut:
Laguna morta e Laguna viva. Wobei wir schon beim Thema
angelangt wären: Leben und Sterben einer Stadt. Von seiner
Gründung bis zur mittelalterlichen Handelsmacht: Das Wasser
war Rettung, das Wasser war Schutz, das Wasser war
Abwehr, das Wasser war Hafen, das Wasser war Handel,
Gewürze, Weizen und viel Salz, das Wasser war Reichtum,
das Wasser war Doge und Expansion, Kolonialismus bis zum
byzantinischen Konstantinopel.
- Dodsche?
- Sì, doge! Von dux, duce.
- Sie meinen Duc, Herzog?
- No! Duce von Führer. Aber gewählt vom Volk, comprendete?
Nach der Flut kommt die Ebbe, und das Wasser brachte den
Rückzug durch das Osmanische Reich und schließlich den
Tod durch die Pest. Später ist es das gestörte ökologische
Gleichgewicht der Lagune, die verantwortlich für ihr Sterben
sein soll, sagt man.
- Aber das gilt ja weltweit.
- Eben, mondiale! Sì! - Aber dazwischen kamen noch der Genuese
Cristoforo Colombo …
- Christoph Kolumbus?
- … sì, und der Florentiner Amerigo Vespucci, und sie entdeckten
Amerika, der eine, und der andere gab den Namen…
- Weil ersterer nicht gecheckt hatte, dass Indianer keine Inder
sind.
- …sì. Die ersten Siedler der Neuen Welt nannten sich dann
Amerikaner, dank Amerigo!
- Ah, AmeriGaner…?
- No, American!
- Ah, yes, we can! Zwei Italiener im Dienste der Spanier?
- No, no, no! Noch nicht. Kastilien, por Reino de Castilla. Und
als Italiener kann man Kolumbus und Vespucci auch nicht
bezeichnen.
- Perché?
- Weil die italienische Identität die jüngste in Europa ist. Sie
ist erst knapp hundert Jahre alt, glaube ich.
- Und Venedig?
Venezia verlor zunehmend an Bedeutung. Die Atlantikroute
war für den Schiffshandel ergiebiger, Sklavenhandel, all inclusive.
Irgendwann reichte es auch dem letzten Dogen und
er dankte ab.
- Wie, es reichte ihm?
- Napoleon Bonaparte marschierte ein, er duldete wohl keinen
Zweiten. Aber egal, Napoleon verlor alles, wie auch Venedig,
an die Habsburger. Ich sage nur Wiener Kongress.
- Upps!
- Aber auch das wehrte nicht lange, dann vereinigte sich Venedig
mit dem Königreich Italien.
- Aah!
- Aber auch nicht für lange, denn Italien ist ja bekanntlich
kein Königreich mehr.
- Upps!
- Ich sage nur Norditalien und Süditalien.
- Und dazwischen der Vatikan!
- Sì, aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.
- Capisco! Aber das alles ist doch ziemlich verwirrend.
- Ich sagte doch Brainstorming…
- Aah, sì! Ascoltate e ripetete!
- Flüchtlinge gründen Venedig und werden innerhalb von
1000 Jahren zur Handelsmacht Nr. 1. Dann expandiert das
Osmanische Reich und das Kastilianische Reich. Venedig
verliert zunehmend seine politische und wirtschaftliche
Rolle bis es schließlich von fremden Mächten erobert wird.
Nicht zu vergessen sind die zwei Pestepidemien und auch
die Cholera.
- À propos Cholera: Der letzte Deutsche, der an der Cholera
in Venedig starb, war Gustav von Aschenbach, ein Literat.
- Sie meinen Thomas Mann.
Prosa