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VENEDIG|Dezember2016<br />
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nen. Wussten sie etwas und verschwiegen es? Oder wussten<br />
sie wirklich nichts? Damals habe ich mich das oft gefragt,<br />
und auch heute noch bin ich mir nicht sicher.<br />
Eine Atmosphäre der Angst unter den Einheimischen war<br />
beinahe greifbar; einerseits fürchteten sie um ihr Einkommen,<br />
sollte der Tourismus wegen einer Veröffentlichung dieser<br />
Geschehnisse zurückgehen, andererseits fürchteten sie<br />
sich vor dem Geheimnis an sich; einfache Menschen neigen<br />
zu Aberglauben, und bei meinen zahlreichen Befragungen<br />
geschah es nicht selten, dass eine meiner Gewährspersonen<br />
plötzlich von übernatürlichen Phänomenen zu stammeln begann,<br />
welchen ich selbstredend keine Bedeutung beimaß;<br />
meiner Vermutung nach handelte es sich um einen oder<br />
mehrere Serientäter, die gerade hier in Venedig ihr Unwesen<br />
trieben und welchen die örtlichen Behörden nicht Herr werden<br />
konnten, weswegen sie die ganze Sache vertuschten.<br />
Aber ich brauchte mehr, ich brauchte Beweise. Die stammelnden,<br />
teils unzusammenhängenden Aussagen der Einheimischen<br />
reichten bei Weitem nicht aus, um daraus eine<br />
richtige Story zu machen, das wäre die Vorgehensweise von<br />
Revolverblättern und Möchtegernjournalisten gewesen.<br />
Ich machte mich also daran, auch die Gondolieri zu befragen,<br />
doch hier musste ich freilich subtiler, unterschwelliger<br />
vorgehen, da sie ja implizit in Verdacht standen, etwas mit<br />
dem Verschwinden der Touristen zu tun zu haben, und vielleicht<br />
gehörten einzelne sogar wirklich zu den Tätern, die ich<br />
vermutete. Ich glaubte, ein großes Risiko einzugehen, mich<br />
mit vielen von ihnen zu unterhalten, vielleicht sogar mich in<br />
Todesgefahr zu begeben. Sollte ein Gondoliere, mit dem ich<br />
sprach, wirklich Dreck am Stecken haben und Verdacht hegen,<br />
was meine wirklichen Absichten anlangte, könnte dies<br />
übel für mich enden. Doch Risiko gehörte zu meinem Beruf;<br />
obwohl ich die Auslandskorrespondenten in Kriegsgebieten<br />
nicht um das ihrige beneidete, so gab es mir doch ein gewisses<br />
Gefühl der Aufregung; es machte mir Spaß!<br />
Ich erwartete auf Grund der Umstände, auf verschlossene,<br />
womöglich sogar etwas missmutige Männer zu treffen, die in<br />
ihren rot-weiß oder blau-weiß gestreiften Leibchen die Gondeln<br />
steuerten, doch dem war, im Großen und Ganzen, nicht<br />
so: es waren freundliche Männer, die mich gerne in ihren<br />
Gondeln auf unzählige Spazierfahrten ohne Ziel mitnahmen.<br />
Diese nutzte ich dazu, ungezwungen und ohne Misstrauen<br />
zu erregen mit ihnen zu plaudern, um nähere Informationen<br />
zu erhalten.<br />
Doch meine Versuche scheiterten kläglich! Wie ich es auch<br />
anstellte, sie stiegen auf keine Gespräche ein, die in Richtung<br />
sonderbare Vorkommnisse, Verbrechen oder sonstiges<br />
in ihrem Metier abzielten. Es war zum Verzweifeln! Meine<br />
raffiniertesten Tricks im Gespräch führten zu nichts, all meine<br />
Befragungstechnik schien mich im Stich zu lassen! Entweder,<br />
sie wussten wirklich nichts, oder sie hatten sich alle<br />
verschworen. Eines erschien mir jedoch so unglaubhaft wie<br />
das andere – also was steckte hier bloß dahinter?<br />
Ich kann heute nicht mehr sagen, wie viele Tage ich mit der<br />
Befragung der Gondolieri zubrachte, mit wie vielen von ihnen<br />
ich Spazierfahrten unternahm, teilweise bis spät in den<br />
Abend hinein, um dann zu Tode erschöpft in mein Hotelbett<br />
zu fallen. Es müssen sicherlich an die zwei Wochen gewesen<br />
sein, in welchen ich so gut wie nichts erfuhr, außer, dass<br />
in der Zeit meines Aufenthalts wieder zwei Touristen, ein<br />
junges Paar diesmal, verschwunden waren, die zuletzt beim<br />
Besteigen einer Gondel gesehen worden waren – und der<br />
fragliche Gondoliere war wieder einer mit Allerweltgesicht<br />
ohne jegliche besondere Kennzeichen…..<br />
Lange Rede, kurzer Sinn: es verließ mich schön langsam der<br />
Mut. Sicherlich, ich war langwierige und schwierige Untersuchungen<br />
gewöhnt, aber nie zuvor oder danach bin ich auf<br />
eine solch undurchdringliche Mauer des Schweigens gestoßen.<br />
Ich wollte schon aufgeben und mich geschlagen geben,<br />
bis ich eines Abends doch noch auf einen Gondoliere stieß,<br />
der mir irgendwie seltsam vorkam; ich kann nicht sagen, wieso.<br />
Ich glaubte, er sei anders als jene, die ich bisher befragt<br />
hatte, also eilte ich auf seine Gondel zu, die gerade am Rande<br />
eines schmaleren Kanals Halt machte.<br />
Der Gondoliere war ein hochgewachsener, hagerer Mann,<br />
dessen Gesicht ich auf Grund des bereits einsetzenden<br />
abendlichen Zwielichts nicht genau erkennen konnte. Es<br />
schien mir alltäglich, fast gewöhnlich zu sein, wenn auch etwas<br />
blass. Eine schwarze Mütze bedeckte sein Haupt und ich<br />
vermutete, dass sich darunter eine Glatze befinden müsse.<br />
Als ich auf ihn zuschritt, trafen sich unsere Augen. Ich blickte<br />
in die seinen, die blassgrün und kühl auf mich gerichtet waren,<br />
als würden sie durch mich hindurchspähen; es war fast,<br />
als wäre dieser Mann nicht ganz anwesend im Hier und Jetzt,<br />
und trotz allem verneigte er sich, als er erkannte, dass ich<br />
zu ihm kam. Sein rot-weiß gestreiftes Leibchen hing beinah<br />
schlabberig an seinem Körper und die Düsternis warf Schatten<br />
auf sein undeutliches Gesicht und seine dünne Gestalt.<br />
Ich sagte ihm, ich wolle eine kleine Abendspazierfahrt unternehmen.<br />
Er neigte darauf seinen Kopf etwas nach vorne,<br />
was ich als Zustimmung deutete, und ich wollte bereits einsteigen,<br />
als er mich mit einer Handbewegung davon abhielt.<br />
Prosa