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Mag.arch. Dietmar Steiner<br />
geb. 1951; Studium der Architektur<br />
an der Akademie der<br />
bildenden Künste in Wien;<br />
Mitarbeiter von Friedrich<br />
Achleitner am Archiv „Österreichische<br />
Architektur im 20.<br />
Jahrhundert“; bis 1989<br />
Lehrtätigkeit an der Hochschule<br />
für angewandte<br />
Kunst in Wien; zahlreiche<br />
Beiträge zur Kritik und<br />
Theorie der Stadt und Architektur<br />
in internationalen<br />
Medien; seit 1989 Büro für<br />
„Architekturberatung“ in<br />
Wien; seit 1994 Direktor des<br />
„Architekturzentrum Wien“;<br />
seit 2006 President von<br />
ICAM (International Confederation<br />
of Architectural<br />
Museums)<br />
2.11 Vorschläge zu einer nationalen, ressortübergreifenden<br />
Koordination zur Wahrung und Verankerung einer<br />
gesamtheitlichen Planungs- und Baukultur<br />
Dietmar Steiner<br />
Österreich hat 2.359 Gemeinden. Von verantwortlichen PolitikerInnen geführt,<br />
die immer auch ganz wesentliche und für die Entwicklung ihrer Orte nachhaltig<br />
wirksame Planungs- und Bauentscheidungen zu treffen haben. Niemand kann<br />
diesen PolitikerInnen unterstellen, dass sie an baukulturellen Fragen nicht interessiert<br />
seien. Sie werden in ihren Entscheidungen beraten. Von Beamten? Sachverständigen?<br />
Unabhängigen PlanerInnen? Gestaltungsbeiräten? Mit welcher<br />
Intensität geschieht dies, und welche Qualifikationen haben diese BeraterInnen?<br />
Welche Modelle werden in den verschiedenen Bundesländern und Gemeinden<br />
entwickelt und angewandt? Die Baukultur im ganzen Land kann nur dann verbessert<br />
werden, wenn eine qualifizierte Projektentwicklung und Projektbeurteilung<br />
vor allem auch durch die exekutierenden Gebietskörperschaften und<br />
PolitikerInnen erfolgt. Diese Prozesse müssen qualifiziert moderiert und begleitet<br />
werden.<br />
Sind wir uns über den Begriff Baukultur einig? Denn wenn dieser koordiniert<br />
werden soll, dann sollte man fragen, wohin das führen wird bzw. führen kann.<br />
Baukultur wird gerne als „Prozesskultur“ umschrieben. Denn ein gestalthaftes<br />
Ergebnis will nicht vorherbestimmt sein, damit jederzeit dem Neuen und Unerwartetem,<br />
der kreativen Entwicklung Raum gegeben wird. Damit ist aber eine<br />
künftige und nicht die gegebene Baukultur gemeint. Und es sei unterstellt, dass<br />
damit einer Baukultur der ExpertInnenkultur der Architektur und Raumplanung<br />
zum Durchbruch verholfen werden soll.<br />
Es wird wohl in diesem Report viele Definitionen von „Baukultur“ geben. Ich bevorzuge<br />
dafür keine ideologie- oder theoriebasierte, sondern eine der empathischessayistischen<br />
Anschauung. Denn diese kommt der tatsächlich allgemeinen<br />
Wahrnehmung der Umwelt am nächsten.<br />
Dabei betrachte ich für diesen Baukulturreport zur Lage in Österreich nicht die<br />
Städte, die alle über eine jeweils eigene Identität verfügen, sondern die<br />
Alltagskultur des ruralen Raums.<br />
Baukultur : Verantwortung<br />
Gesamtheitliche Planungs- und Baukultur 2.11<br />
Die Baukultur Norddeutschlands ist durch wohlaufgeräumte Dörfer mit sauberen<br />
Häusern in Sichtziegelmauerwerk geprägt. Selbst die Satellitenschüsseln<br />
sind in rotbraun gehalten, um die Harmonie nicht zu stören. Demgegenüber ist<br />
die heutige Baukultur des mediterranen Raums von einem chaotischen Wildwuchs<br />
geprägt. Man meint, die Absenz verbindlicher Regeln und behördlicher<br />
Vorschriften förmlich zu spüren. Im ländlichen Raum unserer Gegenden fällt auf,<br />
dass in Bayern oder Südtirol weitgehend kompakte Dorflandschaften existieren,<br />
dass für individualistische architektonische Experimente relativ wenig Raum<br />
und Möglichkeiten geboten werden.<br />
Davon unterscheiden sich Österreich, aber auch Oberitalien und viele andere<br />
europäische Regionen, grundsätzlich. Hier scheint ein Mini-Amerikanismus des<br />
üblichen European urban sprawl zu herrschen, der seine wirtschaftliche Prosperität<br />
hemmungslos entlang von Entwickungsachsen weitgehend unkoordiniert<br />
realisiert. In Österreich sind dies nicht nur die Speckgürtel rund um die großen<br />
Landeshauptstädte. Es sind inzwischen auch die kleinen Bezirksstädte, deren<br />
Peripherie ein neues sub-urbanes Lebensgefühl erzeugt. Und es sind viele kleine<br />
Gemeinden im weiten Land, deren neue öffentliche Gebäude jede Baukultur<br />
vermissen lassen und in deren Weichbild sich eine neue „Baukultur“ der Häuslbauer<br />
mit hemmungsloser konsumistischer Gestalt realisiert hat.<br />
Dass sich in diesem Wildwuchs auch isoliert eingestreute ambitionierte Einfamilienhäuser,<br />
Gewerbe- und Freizeitbauten aus dem innerarchitektonischen Kanon der Anerkennung<br />
finden, bestätigt zwar den international vermarktbaren Mythos der besonderen<br />
Kreativität individueller österreichischer Architektur, bleibt aber letztendlich doch nur<br />
Teil dieses zeitgemäßen und zeitgenössischen Chaos.<br />
Baukultur ist das alles nach allgemeinem Verständnis nicht. Baukultur wäre<br />
eine geordnete Siedlungsentwicklung. Deftige dichte Dorfkörper, mit harter<br />
Kante zum freien ruralen Umfeld. Dieses abstrakte Bild vereinigt paradoxerweise<br />
konservative und progressive Bestrebungen. Alle sind gegen „Zersiedelung“,<br />
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